piwik no script img

■ Gedanken zur Grünen Woche in BerlinImmer mehr und immer weniger

Wenn Landwirtschaftsminister und Bauernpräsident nebst Ehrengästen leicht wankend ihre Eröffnungs- und Vorkosterrunde an einem Hinterausgang des Messegeländes beenden, strömt vorne das Volk rein. Das Drängeln durchs Schlaraffenland gibt immer wieder das beruhigende Gefühl, daß alles da ist. Der Überfluß schüttet die Unzufriedenheit zu. Krise der Landwirtschaft? Den angereisten Bäuerinnen und Bauern wird eine erfolgreiche Ernährungswirtschaft unter die Nase gerieben, die aus schmuddeligen Kartoffeln, roher Milch und billigem Fleisch phantasievolle Köstlichkeiten zaubert. Und die Verbraucher, höchst verunsichert wegen Rückständen und Hormonen, werden mit immer neuen Markenzeichen und Gütesiegeln bei der Stange gehalten.

Fast 80% der verzehrten Lebensmittel sind inzwischen industriell verarbeitet oder konserviert. Im EG- Binnenmarkt werden sie über immer größere Entfernungen transportiert. Das wird die für Nestlé und Unilever profitable Distanz zwischen Bauern und Verbrauchern vergrößern. Die EG-Agrarreform wird mit den drastischen Preissenkungen die Zahl der Bauernhöfe halbieren und die Industrialisierung der Landwirtschaft fortsetzen, aber davon werden die Kunden im Supermarkt so wenig spüren wie die Gäste der Grünen Woche.

Eigentlich könnte die Grüne Woche Gelegenheit bieten, die schleichende Entfremdung zwischen Stadt- und Landleben am Beispiel der landwirtschaftlichen Erzeugungsmethoden und städtischer Ernährungsgewohnheiten begreiflich zu machen. Aber den Ausstellern ist es immer wieder gelungen, kritische Stimmen als Garnitur umzufunktionieren. Greenpeace darf am Rande der Tierhalle auf pestizidverseuchtes Trinkwasser hinweisen, Tierschützer protestieren auf dem „Markt der Möglichkeiten“ gegen die tierquälerische Massentierhaltung. Sogar auf den Verlust der Vielfalt von Nutzpflanzen- und Tieren wurde bei der Grünen Woche schon hingewiesen.

Der Eindruck der Angebotsvielfalt täuscht. Zwar hat der internationale Agrarhandel, vor allem in Ländern der Dritten Welt, das Ernährungsangebot bunter und exotischer gemacht. Gleichzeitig verlieren wir aber im Zuge der intensiven, chemisierten Erzeugungsweise die genetische Vielfalt und damit die Grundlagen einer dauerhaften und sicheren Ernährung. Im niederländischen Weizen-, Zuckerrüben- und Kartoffelanbau zum Beispiel kommen gerade noch jeweils drei fast identische Sorten aufs Feld. In Frankreich und Deutschland sind die meistangebauten und gekauften Apfelsorten importierte Standardsorten, 70% davon der schmackhafte Golden Delicious. Nach Anfang des Jahrhunderts waren Hunderte von lokalen und regionalen Sorten – schmackhafter und vitaminreicher – auf Berliner Märkten zu bekommen. In der Pflanzen- und Tierzüchtung wurden zu lange die gleichen Produktionsziele verfolgt wie in der Fast-food-Branche: möglichst viel und schnell. Der Einzug der Gentechnik in die Landwirtschaft beschleunigt diesen Prozeß noch. All dies ist ein Hohn auf den Rat zur Ernährung, den Ärzte gerne ihren gestreßten Patienten geben: weniger, abwechslungsreicher und langsamer. Friedrich Wilhelm Graefe zu Baringdorf

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen