■ Stadtmitte
: Zivilcourage zweiter Klasse

Das Berliner Parlament zieht in die Mitte der Hauptstadt, von der der Zweite Weltkrieg ausging und in der die Vernichtung der europäischen Juden beschlossen wurde. Der alte preußische Landtag wird neues Domizil, Prinz-Albrecht-Straße hieß es damals. Überall auf dieser Welt leben Flüchtlinge und Hinterbliebene, die bei diesem Namen erblassen. Hier war die Zentrale des Terrors: Gestapo, SS, Reichssicherheitshauptamt.

Wird es einen von ihnen interessieren, ob diese Straße heute nach einer Kommunistin benannt ist? Nein – nur eines ist wichtig: Käthe Niederkirchner wurde im KZ Ravensbrück ermordet, weil sie Widerstand leistete. Aus welchem Motiv auch immer, sie riskierte ihr Leben, während andere schwiegen, wegsahen, mitliefen.

Wo ist die Jüdin, die nach der politischen Gesinnung fragte, wenn sie ein Rettungsangebot bekam? Welche Fragen stellt heute ein Flüchtling, der um sein Leben fürchtet, wenn draußen Bürgerinnen sich schützend vor das Haus stellen? Keine! Er wird ungläubig sein vor Freude, daß Menschen ihre Gesundheit aufs Spiel setzen, ihre Angst überwinden.

Genau das wünschte sich die Berliner Pralamentspräsidentin Laurien, als sie in Vorbereitung der Demo am 9. November in Berlin auf unseren Vorschlag hin versuchte, eine Quedlinburger Bürgerin vor von Weizsäcker reden zu lassen: das Zeugnis von Zivilcourage in Deutschland.

In aller PolitikerInnen Munde war das Wort, gemeinsam zeigen, daß Rostock und Hoyerswerda nicht das ganze Deutschland sind. Am vergangenen Donnerstag aber hörten wir Zustimmung aus der CDU-Fraktion, wenn in einer Rede über Käthe Niederkirchner erzählt wird, daß sie als KPD- Mitglied nach dem Verkehrsstreik verhaftet wurde.

Die Präsidentin Laurien hält eine Rede anhand eines DDR- Lexikons über eine kommunistische Partisanin, als stünde dort die Wahrheit und nicht Glorifizierung und Vereinnahmung. Als ihre Rede endet, hat sie viel über Kommunismus und Stalinismus erzählt – nichts über den Nationalsozialismus und die dann immer noch mutige Käthe Niederkirchner. Donnernder Applaus der einen Hälfte des Parlamentes und ein strahlender Abgang der Präsidentin, die alles, was sie selbst bisher als Maßstab aufstellte, mit Füßen trat.

Sie werde die Adresse des Parlamentes nach ihrem Gewissen entscheiden, teilte Frau Laurien mit. Dies gesteht ihr die Verfassung als Abgeordnete zu, aber als Präsidentin ist sie zu neutraler Amtsführung verpflichtet. Deswegen müßte sie sich im Zweifelsfalle an der Mehrheit des Hauses orientieren, und die hat anders entschieden. Was wäre, wenn diese Straße nach Graf Stauffenberg oder nach Karl Bonhoeffer hieße?

Unter Beifall erklärt die Präsidentin eines deutschen Landtages, wir stünden nicht in der Tradition der ermordeten Käthe Niederkirchner. Am liebsten will sie die Adresse „Abgeordnetenhaus, Berlin Mitte“. Aber: In der Nähe der Gestapo, direkt an Mauerresten ist nichts neutral, ist nichts vergleichbar mit der Adresse „Deutscher Bundestag, 5300 Bonn“.

Lauriens Entscheidung ist ein Schlag ins Gesicht vieler Tausender Opfer. Aus wirtschaftlichen und internationalen Interessen werden heute alle aufgefordert, Zivilcourage gegen Rechtsextremisten zu zeigen. In die Geschichtsbücher aber kommen künftig nur die mit CDU- oder FDP-Gesinnung. Gestrichen wird Michael Gorbatschow als ehemaliges Staatsoberhaupt eines kommunistischen Staatenbundes. Herausgerissen werden die Seiten über die Befreiung Berlins durch die sowjetische Armee.

Der Kalte Krieg nach innen ist noch nicht beendet. Zumindest aber auf den Briefbögen von Bündnis 90/Grüne wird das Berliner Parlament an der Niederkirchner Straße stehen. Alle Menschen, alle Opfer sind gleich. Renate Künast

Die Autorin ist Rechtsanwältin und Abgeordnete des Bündnis90/ Grüne.