■ Scheibengericht
: Johnny Winter

Hey, where's your Brother?

Virgin Pointblank

Johnny, der Unverwüstliche: Seit er Ende der sechziger Jahre die lokalen bzw. regionalen Blues- Szenen von Chicago und Texas hinter sich ließ, hat er mehr als zwei Dutzend Schallplatten veröffentlicht, ohne Abnutzungserscheinungen erkennen zu lassen. Johnny Winter ist im schlechtesten Fall ein Handwerker mit einem Hang zum virtuosen Leerlauf; im besten Fall ist er ein Erleuchteter, ein „Meister“ im Sinne der indischen Musik. Dann spielt „Ustad“ Johnny Winter meditativ in sich versunken seinen Texas-Boogie mit der Intensität und der Phantasie einer großen indischen Raga- Improvisation, wo – in den besten Augenblicken – die Klarheit des Geistes und die Wärme des Herzens auf wunderbare Weise zusammenfinden.

Seine neueste Platte besitzt einige derart entrückte Momente. Sie ist die beste Produktion, die Winter seit Jahren abgeliefert hat. Das ist um so bemerkenswerter, als der Bluesrocker nichts, aber auch gar nichts Neues versucht. (Das Wort „Innovation“ gehört ohnehin nicht zu seinem Sprachschatz). Wie immer bewegen sich seine Titel im klassischen Spektrum des zeitgenössischen elektrischen Blues, über dessen unterschiedliche Spielformen Winter in souveräner Weise verfügt. Trotzdem – und das ist das Außergewöhnliche – klingt die Musik auf „Hey, where's your brother?“ in keiner Note ausgeleiert oder angestaubt. Das hat sicher damit zu tun, daß Johnny Guitar mit Jeff Ganz (Baß) und Tom Compton (Schlagzeug) eine neue Rhythmusgruppe dabei hat, die sich als wahrer Glücksgriff entpuppt. Sie bilden ein Gespann von seltener Dynamik und unerhörtem Drive, das dem Chef laufend Zunder gibt und ihn so zu Höchstleistungen herausfordert.

So gelingen ihm Passagen, die sich auf einem Abstraktionsniveau bewegen, das nur noch tachistisch andeutet (allerdings in grellen Farben) und kaum mehr durchgängige Linien zieht. Darin liegt das Geheimnis seiner Musik: Johnny Winter benutzt die immergleichen Blues-Schemata wie Meditationsformeln, um abzuheben. Wenn er auf diese Weise seine Sounds in die Galaxie hinausschleudert, meint man ihn vor sich zu sehen: wie er zombiehaft durch seine rötlich-glasigen Albino-Augen unter der Krempe seines Cowboyhuts hervorguckt, ein Alien, den irgendein Ufo in Texas vergessen hat, und der jetzt auf seiner im Wüstensand eingestöpselten Gitarre spielt: Johnny, der Außerirdische.