Der Müll, die Stadt, die Demokratie

Die Wende hinterließ die nordöstlichste deutsche Kreisstadt Wolgast in stiller Verharrung/ Doch neuerdings entsteht Streit um die öffentlichen Angelegenheiten, beginnt sich Demokratie zu entwickeln  ■ Von Götz Aly

Heute teilen sich Rettungswacht, Sparkasse und FDP die Räume der ehemaligen Staatssicherheit. Am Straßenrand poliert eine Arbeitslose ihren nagelneuen Audi 80, den Juwel der Familie. Linkerhand finden sich seit Jahr und Tag der katholische Kindergarten und die kleine Kirche des Pastors Illmann.

Höchsten 500 Mitglieder zählt seine Diasporagemeinde. „Ja“, wägt der Pastor seine Worte, „die Lage der Kirche ist nicht leicht. Früher, so denken die Leute, hätte sie sich mit der Stasi gemein gemacht, jetzt mit den Ausländern.“ Die Situation sei verworren, fast aussichtslos in diesem „verschlafenen Ort“: Die Menschen sind förmlich atomisiert, die alten Beziehungen vielfach zerbrochen. Sie bestanden in der negativen Identifikation mit der Herrschaft, in gegenseitiger Hilfe in den Zeiten der Mangelwirtschaft. Autohaus, Baumarkt und Demokratie beendeten diese Art freundlicher Nachbarschaft abrupt. „Nun erst“, so Illmann, „wird sichtbar, wie sehr die 40 Jahre in die Menschen eingeträufelt sind.“ Wie sehr den Familien erzieherische Verantwortung vom Staat abgenommen und von diesen nicht ungerne abgegeben worden sei. „Ein angezüchteter Minderwertigkeitskomplex wuchs in den Menschen – ziemlich genau in dem Maß, wie der Umtauschkurs der Ostmark gegenüber der Westmark absackte.“ So „entwickelte sich ein Krebsgeschwür im Ich“.

Wie sich der Bürgersinn nun neu und anders entfalten könne, das weiß Illmann (noch) nicht. Es gebe da eine kleine Initiative, noch nicht der Rede wert... selbstverständlich ist er dabei. Klar sei aber eines: „Eine Lichterkette lehne ich ab, damit zieht man eine Grenze zu ,den anderen‘, stellt sich selbst auf die bessere Seite.“ Und im übrigen: „Lichterketten passen bestenfalls in die Zeit des Advents, nicht in die des Faschings.“

Einer der Mitstreiter des Pastors könnte der knapp 50jährige Klaus Hane sein – Jurist aus Überzeugung, fränkisch rollendes „R“, Lederjacke, graue Jeans und doch einer jener klassischen südwestdeutschen Honoratioren, vom Scheitel bis zur Sohle, Kravattenwechsel für die Mittagspause.

Nach einem begeisternden Familienurlaub auf Rügen hatte Hane im letzten Jahr seine Versetzung von Ludwigshafen am Rhein in die äußerste nordostdeutsche Ecke an die Peene beantragt. Nun leitet er das Amtsgericht der Stadt: „Nein! Die Kriminalität hier unterscheidet sich nicht prinzipiell von der in Westdeutschland.“ Insoweit lasse sich durchaus von Einheit reden. Alles sei sehr ähnlich, nur das Fahren im Zustand schwerster Trunkenheit weit häufiger.

Dem Amtsgerichtsdirektor gefallen die Menschen, „ihre schöne Sprache, ihre feine, sehr eigene Art“. Was denn seine Frau, die 10- und 11jährigen Kinder zu dieser Versetzung sagen? Kein Problem! Hane ist Mitinitiator des neu gegründeten Waldorfschulvereins in Greifswald, das Schweriner Erziehungsministerium gab grünes Licht. Im Herbst des Jahres soll, wenn alles gut geht, die erste anthroposophisch orientierte Privatschule der Region eröffnet werden. Dann zieht die Familie nach. Die Kinder werden von einer Waldorfschule in die andere wechseln.

Wolgast heißt der „verschlafene Ort“, die auf dem Festland gelegene Kreisstadt, das „Tor zur Insel Usedom“. Die „Brücke der Freundschaft“, die Stadt und Insel verbindet, wird demnächst abgerissen, neu und breiter gebaut, eine Durchfahrt für größere Schiffe geschaffen, die sieben Kilometer lange Fahrrinne bis zur Ostsee vertieft. Kosten: 40 Millionen.

Es ist eine Investition, die der Bremer Unternehmer „Herr Detlef Hegemann“ im Rahmen seiner „vielfältigen Aktivitäten“ durchsetzte. Sie ist ihm nützlich, vielleicht doppelt nützlich, denn Hegemann besitzt mittlerweile nicht nur die unmittelbar hinter der Brücke gelegene Peenewerft, sondern auch die Elbo-Gruppe, das mit weitem Abstand größte Bauunternehmen der Region. Und wer in dieser Gegend an die „5.000 Arbeitsplätze sichert“, der braucht sich um rote Teppiche und offene Türen nicht zu sorgen.

An die 30 ehemalige Kriegsschiffe der Volksmarine verkaufte der Bund an Indonesien. Die Schiffe wurden hier gebaut, die Umbauaufträge sind so gut wie sicher: Arbeit für 3 Jahre, geachtet und hofiert stolzieren die indonesischen Inspektoren durch den Ort.

Stadt und Kreis sind arm, die Kaufkraft ihrer Einwohner liegt um 15 Prozent unter dem ostdeutschen Durchschnitt, mehr als 22 Prozent der früher Erwerbstätigen sind nach der offiziellen Statistik arbeitslos. Während die Zahl der Kindergarten- und Krippenplätze seit 1989 kontinuierlich vermindert, Pflegeheime, Bibliotheken geschlossen werden mußten (ein Prozeß, der längst nicht abgeschlossen ist), verdoppelte sich gleichzeitig die Zahl der zugelassenen Kraftfahrzeuge.

Die Stadt verfügt praktisch über keine eigenen Einnahmen. Die Gewerbesteuer ist, so wollten es die Bundestagsabgeordneten, als sie die Gewerbesteuer bis 1994 aussetzten, nicht nur für Investoren ausgesetzt, sondern auch für die umsatzstarken, konsumorientierten Glücksritter der Einheit: Aldi, Shell.

Was es für die Gemeinden an Geld gibt, sind im wesentlichen Zuweisungen, vom Land, vom Bund – zweckgebundene Zuweisungen. Damit wird die Entwicklung kommunaler Demokratie nachhaltig gestört, die Gemeinde muß betteln gehen, ihre Prioritäten diskutieren, abstimmen und entscheiden kann sie auf dieser Grundlage kaum. So jedenfalls sieht es der aus Schleswig-Holstein importierte Bürgermeister, Jürgen Kanehl (SPD). Seine Partei zählt ganze 13 Mitglieder in der Stadt, diese „Basis“ reicht noch nicht einmal für die Besetzung der politischen Ehrenämter. Von den 29 Stadtverordneten erscheint oft kaum die Hälfte, das Gremium laboriert ständig an der Grenze zur Beschlußunfähigkeit.

„Die Bereitschaft, sich politisch, gesellschaftlich zu engagieren, ist schwach, die Leute sind resigniert, und sie waren es gewohnt, daß der Staat ihnen die Hand vor den Hintern hielt – egal was war“, sagt Kanehl. Wie er denn diesen Zustand überwinden wolle? „Mit Hilfe von Verwaltungserfolgen, die das Gefühl geben, es lohnt sich doch!“ Umgehungsstraße, Städtebauförderung, Schulzentrum, Jugendfreizeitheim sind die Stichworte aus dem sozialdemokratischen Politbaukasten der westdeutschen 70er Jahre.

Dabei ist Wolgast eine Stadt gescheiterter Modernisierungsversuche. Das Alte und das Neue stehen hier schon lange unverbunden und fremd nebeneinander: Wolgast- Nord, die Plattensiedlung war die SED-Alternative zu den zerfallenden Fischerkaten des letzten Jahrhunderts; 1930 verirrte sich ein nüchtern-moderner Bauhausquader an den halbwegs historischen Marktplatz; das Restaurant „Vierjahreszeiten“ gehört zu den Hinterlassenschaften Albert Speers, der es als eine Art Casino für die Peenemünder Raketen-Elite bauen ließ. Daneben das „Parkhotel“, ein wüster Zweckbau der 70er Jahre. Die Turmspitze der protestantischen Stadtkirche „Sankt Petri“ brannte 1920 ab – das Notdach blieb bis heute.

Weihnachtsfeiern heißen hier im Jargon der personell wenig veränderten Lokalpresse selbstverständlich noch „Jahresabschlußfeiern“, der Landkreis „Territorium“, grotesk gemischt mit der Technosprache des Neuen. Leicht verdichtet klingt das so: „Zusammenfassend kann eingeschätzt werden, daß ein vielelementiges Umnutzungskonzept für das alte Kraftwerksgebäude, Flaniermeilen und Erlebnisbereiche in den Stadtzentren des Planungsraums Greifswald-Wolgast-Anklam das Wichtigste im Hinblick auf die niveauvolle Betreuung der Gäste sind.“

Von den 20.000 Einwohnern der Stadt Wolgast sind seit der Wende mehr als 3.000 abgewandert. „Insgesamt wird ein Drittel der Bevölkerung hier gehen müssen“, bemerkt einer der zahlreichen nordwestdeutschen Verwaltungsbeamten – „nur zu sagen traut sich das keiner.“ Die zwei jungen Männer, über die Amtsgerichtsdirektor Hane an diesem Mittwoch zu Gericht sitzt, arbeiten beide schon im Westen – der eine als Binnenschiffer auf dem Rhein, Mosel und Maas, der andere als Chemiearbeiter in Düsseldorf.

Wolgast, das war schon immer Peripherie, sei es unter schwedischer, preußischer oder sozialistischer Herrschaft. Und nun scheint selbst die über die Zeiten hinweg gewahrte Rolle der Kreisstadt bald beendet. Nächstes Jahr soll das Kennzeichen „WLG“ von den Autos verschwinden, der Kreis mit den Nachbarkreisen Anklam und Greifswald-Land zusammengelegt werden. „UP“ heißt es dann wohl – Usedom-Peene-Kreis. Die Chancen für Anklam als neuer Kreishauptstadt stehen gut. Trotz allen Protests der Gemeindeväter. Wolgast würde dann, wie es in der Sprache der Raumordnungsbehörden heißt, vom Mittel- zum Unterzentrum herabgestuft werden.

Die Verwalteten interessiert das nur am Rande. Und dennoch formieren sie sich – nicht an den sogenannten großen Fragen der Region, wie der Bürgermeister Kanehl sich erhofft, sondern an den kleinen: Die Müll- und Abwassergebühren sind ihr Thema. Die Müllsatzung des Kreises eine Frechheit! Bezahlt wird nicht! Und hier, genau hier entstand die Auseinandersetzung über Demokratie und Recht. Aber erst als der Mitte September neugewählte Dezernent für Umwelt und Soziales, Udo Knapp, den Fehdehandschuh aufnahm.

„Nach der zweiten Mahnung wird vollstreckt!“ verkündete Doktor Knapp den rund 8.000 Zahlungsboykotteuren eisern. „Erpressung“, hallte es zurück: „In der DDR wurden wir mundtot, heute werden wir rechtlos gemacht!“ Von wegen: Der „Anschluß und Benutzerzwang“ sei gesetzlich vorgeschrieben, die Satzung sei nicht gut, aber vom Kreistag verabschiedet. Solange diese Satzung gelte und nicht von den gewählten Abgeordneten verändert sei, habe sich jeder danach zu richten.

Knapp hat die Satzung nicht gemacht. Eine westdeutsche Entsorgungsfirma – 100prozentige RWE- Tochter – hatte sie den Kommunalpolitikern bald nach der Wende vorgeschlagen und denen fiel nichts anderes ein.

Inzwischen gab der frischgebackene Dezernent ein abfallwirtschaftliches Gutachten in Auftrag, er will die Müllpolitik, die Vertragsbedingungen mit der Müllentsorgungsfirma ändern, aber nur im Rahmen verfassungsrechtlich legitimierter Abläufe. „Die Einübung dieser gesetzlichen Verfahrensweisen, das ist die Revolution, um die es jetzt hier geht. 1989, das war ein Zusammenbruch, nicht mehr und nicht weniger!“ Der Streit macht ihm sichtlich Spaß. „Nur so entwickeln die immer noch realsozialistisch verpuppten Pommern wieder ein gepflegtes Selbstbewußtsein, bodenständig, eigensinnig – eben anders als alle anderen.“