Völlig überraschend

Wenn beim Tennis eigentlich nichts passiert, sucht sich der Korrespondent halt was  ■ Aus Melbourne Bernd Müllender

Es mangelt den Australian Open 1993 an Überraschungen, an infarktiösen Dramen, so klagten wir gestern noch. Der Montag in Melbourne zeigte, daß es auch anders geht – man muß nur die richtige Sichtweise haben.

Stefan Edberg zum Beispiel. Am Samstag, kurz nach seinem Sieg über den Israeli Amos Mansdorf, sagte er erst, er brauche dringend zusätzliche Einsätze im Doppel für die richtige Portion Matchpraxis. Eine Stunde später zog er alle weiteren Doppeleinsätze zurück, weil der Rücken arg schmerzte (Edberg: „Das kommt vom Alter“), und die Gerüchte wollten nicht verstummen, er werde überhaupt nicht mehr antreten. Beim Training gestern morgen bekam er kaum einen Aufschlag übers Netz. Arno Boetsch, sein Achtelfinalgegner aus Frankreich, richtete sich auf einen Spielausfall ein, da kam Edberg aus den Katakomben, serv-, voll- und retournierte brillantest und schaffte völlig überraschend seine achte Viertelfinalteilnahme hier in Folge.

Oder Monica Seles. Glaubte man den Vorberichten, wäre sie gestern ausgeschlossen worden vom Turnier. Grund: ihr Gegrunze. Gegnerin Nathalie Tauziat hatte angekündigt, sich beim kleinsten Laut aus dem gegnerischen Schlund gestört zu fühlen und unmittelbar alle Tennis-Schiedsgerichte dieser Welt anzurufen. Das Spiel sei gar „gesellschaftlich interessant“, vermeldete der Reporter eines deutschen Rundfunksenders. Aber dann schlich Seles leiser über den Platz als ein Indianer auf Kriegspfad und gewann völlig unüberraschend, aber wortlos 6:2, 6:0.

Oder Katarina Malejewa. Sie spielte großartig gegen Jennifer Capriati, gewann den ersten Satz beifallumrauscht 7:6, sah sich plötzlich in der Favoritenrolle und ging, völlig überraschend, in den beiden folgenden Sätzen 3:6 und 1:6 ein. Alle drei Malejewa-Schwestern hatten sich am Samstag an einem Tag (Premiere) den Weg ins Achtelfinale erschlagen. Vielleicht hatte sie auch einfach keine Lust aufs Viertelfinale. Dort wartet nämlich eine resolute Dame aus Brühl. Für alle drei war daselbst jetzt gleichzeitig Schluß. Das nennen wir Familiensinn, eine Eigenschaft, die im vermeintlich seelenlosen Tennisgeschäft wahrlich nicht alltäglich ist.

Oder Guy Forget. Gut, er hat gewonnen gegen den US-Qualifikanten Kelly Jones. Völlig überraschend aber, wie sehr er sich mühen und bei seinem fast dreistündigen Dreisatzsieg zweimal in den Tie-Break mußte, um zu gewinnen. Forget und Stich spielen jetzt am Mittwoch im Viertelfinale. Ob die armen Bälle das Spiel überleben werden, kann noch nicht beurteilt werden, begegnen sie dort doch den wildesten Aufschlägern.

Völlig überraschend auch, wie sich der farbige Malivai Washington nach der glatten Dreisatzniederlage gegen Landsmann Pete Sampras fühlte: gut nämlich. Um diesen weitgehend wenig beachteten Spieler (immerhin Weltrangliste 13) dem breiteren deutschen Publikum etwas näherzubringen, abschließend einige Auszüge aus seiner Pressekonferenz, die das völlig überraschend hohe intellektuelle Niveau eines Weltklasse- Tennisturniers belegen möchten.

Frage: Wie war die Woche für Sie?

Washington: Alles in allem war es eine gute Woche, es war keine große Woche. Ich glaube, in jedem Match habe ich manche Sachen gut gemacht und andere nicht.

Was haben Sie falsch gemacht, als Sie zwei Break-Punkte hatten?

Um die Wahrheit zu sagen, ich glaube nicht, daß ich irgendetwas falsch gemacht habe. Ich glaube jedenfalls nicht, daß ich irgendwelche Fehler gemacht habe.

Wie gut ist Pete Sampras wirklich – aus Ihrer Sicht?

Ich glaube, er spielt ziemlich gutes Tennis. Er ist eigentlich immer ziemlich solide. Es könnte sein, daß er mit der Vorhand ein paar mehr Fehler gemacht hat; vielleicht, vielleicht auch nicht.

Hatten Sie denn Probleme mit den Kontaktlinsen heute?

Ja, ich hatte große Probleme mit ihnen. Ich hatte sie nicht dabei.

Wie haben Sie den Centre Court gefunden?

Gut. Um die Wahrheit zu sagen, ich habe mich sehr wohl gefühlt da draußen, auch wenn es nicht so aussah, weil ich ziemlich gut einen drüberbekommen habe. Aber mir ging es sehr gut.