»Zeugnisse schreiben ist eine Kunst«

■ Giftblätter nicht mehr so angstbesetzt wie einst / Berichtszeugnisse demnächst auch bis Klasse 8?

Die kleine Bärbel hat von den Zeugnissen diesmal noch nichts mitbekommen. Ihre Mutter hat sich mit der Lehrerin auf ein Bier getroffen. Alles in Ordnung mit den Leistungen der Zweitklässlerin.

Zeugnisse sind nicht mehr das, was sie mal waren — Gott sei dank. Von Klasse 1 bis 2 gibt's Berichte und Gespräche, in Klasse drei und vier stimmen die Eltern darüber ab, ob es Noten geben soll. Rund 50 Prozent der Drittklässler und ein Viertel der Viertklässler bekommen statt Ziffern einen Text. Statt einer 3 in Mathe steht dann dort: „Das 1x1 bis 1x6 beherrschst Du sicher, beim Rest bist Du unsicher. Sachrechenaufgaben beherrschst Du gut.“

„Für mich ist Benotung in der Schule eine einzige Lebenslüge“, sagt Oberschulrat Holger Müller. Denn in der Grundschule würden die Leistungen potentieller Hauptschüler und potentieller Gymnasiasten miteinander verglichen. Durch die Vergabe von Noten würde der eine Teil ständig frustriert, während sich die anderen wie die Kings fühlten. Müller: „Wenn wir Kinder mit Noten bewerten, befördern wir das Lernen auf diese Note hin. Nicht das Lernen um der Sache willen.“

Das Gros der Neun- und Zehnjährigen bringt heute dennoch ein Notenzeugnis nach Hause. Kurz vor der Entscheidung, ob Gymnasium oder nicht, werden die Eltern nervös, wollen meßbare Ergebnisse sehen. Über den Sinn und Unsinn von Noten ist bändeweise Fachliteratur erschienen. Oberschulrat Müller, der hunderte von Berichtszeugnissen gelesen hat, befürwortet die Ausweitung dieser Bewertungsform für die Klassen 5 und 6. Als Schulversuch ist sogar eine Ausweitung bis Klasse 8 in Diskussion. Entscheidend für den weiteren Schulweg eines Kindes seien die „lernerfolgsbestimmenden Faktoren“, wie Entwicklung von Interesse, Kreativität, Übertragung von Gelerntem auf andere Zusammenhänge, Zielstrebigkeit, Durchhaltevermögen und Kooperationsfähigkeit. Über all diese Dinge, so Müller, würden Ziffern nichts sagen.

„Zeugnisse schreiben ist eine Kunst“, sagt Michael Grüner von der Schülerhilfe. Seit Montag sind dort die Berater-Telefone täglich von 8 bis 16 Uhr besetzt, heute sogar bis 20 Uhr (2984-2606). Am häufigten würden Informationsfragen über die Zusammensetzung der Zensuren gestellt. Viele Eltern empfänden gerade die Gewichtung

1von schriftlichen und mündlichen Leistungen als willkürlich.

Doch unterm Strich sei der Empfang der „Giftblätter“ nicht mehr so angstbesetzt wie einst. Sit-

1zenbleiben ohne vorbereitende Gespräche, Kurzschlußhandlungen wie Suizid oder von zu Hause weglaufen, all dies gebe es heute kaum noch. „Die Spannung ist ein biß-

1chen raus aus der Sache.“ Neben der verbesserten Pädagogik führt der Schulpsychologe dies auch auf die enspannte Situation auf dem Ausbildungsmarkt zurück. kaj