Mein Bruder ist Bodybuilder

Ein Gespräch mit Jean-Claude Lauzon über seinen Film „Leolo“  ■ Von Thierry Chervel

taz: „Leolo“ spielt im Osten von Montreal, einem Arbeiterviertel.

Jean-Claude Lauzon: Das Haus aus dem Film ist mein Geburtshaus. Sehr viel wurde abgerissen, da stehen jetzt häßliche Neubauten. Es ist ein armes Viertel, wie die meisten französischsprachigen Viertel. Dazu muß man wissen, daß Montreal zweigeteilt ist. Die französischen Viertel werden von den englischen durch die Rue Saint Laurent getrennt. Die Franzosen sind in der Mehrzahl, aber die Engländer haben das Geld. Mein Viertel heißt Mile End, wo in meiner Jugend auch viele Emigranten aus anderen Ländern ankamen, vor allem aus Italien. Es war eine Wohn- und Industriegegend, mit Handwerksbetrieben, Schneidereien, Schmieden. Die Chefs waren alle Engländer, die Arbeiter Franzosen. Mile End war eine kaputte Gegend. Es gab viel Gewalt. Ich erinnere mich an Lehrer, die mit den besten Absichten an die Schulen kamen und sich dann von den Schülern zusammenschlagen lassen mußten.

Das sind keine guten Ausgangsbedingungen.

Ich war nicht unglücklich. Als Kind hat man keinen Maßstab. Natürlich sieht man viel Gewalt in der Familie, Inzest und Tod, aber man ist darüber nicht entsetzt, man weiß es einfach nicht besser. Erst wenn man als Erwachsener mit anderen Leuten zu tun hat, spürt man, wieviele Narben man davongetragen hat. Ich glaube, daß meine Beziehungen zu Frauen immer noch davon geprägt sind. Aber man muß aus dem Milieu ausbrechen, um das zu bemerken. Sonst macht man so weiter, wie man es im Elternhaus gelernt hat. Was ich dem Milieu ein bißchen vorwerfe, ist der Mangel an Förderung. Wenn wir in der Schule dreiseitige Aufsätze schreiben sollten, schrieb ich zwölf, die allerdings mit dem Thema nicht das geringste zu tun hatten. Diese Aufsätze mußte ich dann vor der Klasse vorlesen, weil sie alle Leute zum Lachen brachten. Aber kein Lehrer hat sich darum gekümmert, niemand hat mir gesagt, daß ich Talent habe.

Wie sind sie zum Film gekommen?

Es war nicht schwer. Mir ging es nicht wie anderen Filmemachern, die mit dem Traum, Filme zu machen, zur Welt kommen und sich dann beklagen, wie schwer es ist, sich durchzukämpfen. Bei mir lief es über André Petrowski, dem „Leolo“ gewidmet ist. Er arbeitete beim National Film Board und war auf einen Text von mir gestoßen. Er riet mir, eine Filmausbildung zu machen. Ich arbeitete damals in der Fabrik, die Schule hatte ich sehr früh abgebrochen. Er sagte mir, er wolle mir jetzt einen Tritt in den Hintern versetzen, daß ich wieder in die Schule gehe. Entweder wäre ich in fünfzehn Jahren sehr bekannt, oder ich würde im Irrenhaus landen. Er stieß mich richtig rein in die Filmwelt, stellte mich Regisseuren und Schauspielern vor, zeigte mir meinen ersten Schneidetisch. Ich wußte nicht mal, was ein Script ist, der einzige Film, den ich kannte, war „Tarzan“. Ich ging zähneknirschend aufs College zurück, später studierte ich „Kommunikation“: Radio/Fernsehen, Kino und Journalismus. Eigentlich wäre ich gerne Journalist geworden, aber meine Rechtschreibung war so schlecht. Also wählte ich das Kino, aus Faulheit.

Das klingt, als sähen Sie Ihre Kinokarriere als eine Art biographischen Zufall.

Es entwickelte sich. Schreiben war mir ein größeres Bedürfnis, aber ich schrieb einen sehr bildhaften Stil. Mein Abschlußfilm an der Universität wurde ausgezeichnet. Danach habe ich einen anderen Kurzfilm gemacht, für den ich als erster Frankokanadier den kanadischen Kurzfilmpreis bekam. Eigentlich ging ich aber lieber in die Wälder zum Jagen. Mein Vater war sowieso sauer, als ich mit dem Zeugnis von der Universität kam. Er sah mich immer als Feuerwehrmann. Ich war ein paar Zentimeter größer als er, und er sagte, ich hätte das richtige Maß zum Feuerwehrmann, und da bekommt man eine freie Uniform.

Ich war faul, trieb mich herum. Dann bewarb ich mich aus einer Art Schuldgefühl beim American Film Institute in Los Angeles. Die Studiengebühren mußte ich selbst zahlen, viele tausend Dollar. Die Kurse dauerten drei Monate. Die ersten zwei Wochen ging ich hin und war ganz begeistert.

Dann las ich einen Artikel über Tom Jenning, der sechzig Meilen nördlich von Los Angeles wohnte. Jenning war der beste Designer von Pfeil und Bogen in der Welt. Ich liebe Bogenschießen, in meiner Jugend habe ich selbst Bögen gebaut. Jenning lud mich für zwei Wochen zu sich ein.

Danach hatte ich keine Lust mehr auf die Filmschule. Ich ging zur besten Dramaturgie-Lehrerin am Platze und ließ mir in zwanzig Minuten erklären, wie man Filme macht, mit Schauspielern umgeht und so weiter. Das Film Institute wollte mir meine Studiengebühren nicht zurückzahlen. Ich pinnte mein Bild an die Wand im Foyer der Schule, neben die von Orson Welles und Godard. In Montreal machte ich meinen dritten Kurzfilm, den ersten mit professionellen Schauspielern. Wieder gewann ich Preise. So wurde ich Filmregisseur.

Wie kommt es, daß die Familie in Ihren Filmen eine so große Rolle spielt? In Ihrem ersten Film, „Night Zoo“, steht Ihr Vater im Mittelpunkt, in „Leolo“ Ihre Mutter.

Die Familie hat sich eingeschlichen. „Night Zoo“ sollte ein richtig schicker Film werden und in dem Milieu spielen, in dem ich mich damals bewegte – Prostituierte, Gangster, Leute in schwarzen Lederjacken, mit Drogen, Synthesizermusik, was weiß ich, richtig Avantgarde eben. Da starb mein Vater. Das änderte mein ganzes Script.

Ich tötete zwei Polizisten, um meinen Vater vorkommen lassen zu können. Ich wollte das nicht, es ist mir passiert. Ich wollte ein Beineix oder Besson sein und viele schöne Frauen in meiner Nähe haben. Wenn man Filme wie „Leolo“ macht, wird man am Flughafen von häßlichen intellektuellen Frauen mit dicken Brillen abgeholt, die sagen „Oh! Ich liebe Ihren Film!“. Das will ich nicht!

Es gibt auch schöne intellektuelle Frauen!

Aber die holen mich nicht ab. „Leolo“ habe ich Jahre vor mir hergeschoben. Das Script ist älter als das für „Night Zoo“. Ich würde viel lieber glückliche Filme machen wie „Im Rausch der Tiefe“, wo die Leute sich lieben und umeinander kümmern. Aber jedesmal, wenn ich mich hinsetzte, um über einen neuen Film nachzudenken, kamen meine eigenen Geschichten wieder.

Sie mußten sie loswerden.

Ich war nicht frei, diese Geschichten bedrängten mich. Als ich die endgültige Fassung des Drehbuchs fertighatte, schickte es jemand nach Los Angeles, und es fanden sich Produzenten, die Lust hatten, den Film zu finanzieren. Da habe ich den Film gemacht. Ich bin eine sehr zwiespältige Person. Nach jedem meiner Filme stehen die Leute mit betroffener Miene am Premierenbüffet. Darüber freue ich mich nicht. Man fragt mich, ob ich die Szene mit der Katze gemacht habe, um zu schockieren. Nein! Ich hasse sie genauso wie die anderen Leute auch. Ich habe einfach keine andere Wahl.

Sie haben gesagt, daß die Welt besser wäre, wenn jeder Filme machen könnte. Ist Filmemachen eine Art Therapie für Sie?

Wenn Sie sich meine Familie ansehen...

Ihre Familie kenne ich ja nicht.

Doch. Die ist im Film. Das ist kein Witz! Mein Bruder ist Bodybuilder, ich habe eine dicke Schwester und eine dünne Schwester, mein Vater hat genauso ausgesehen wie im Film, meine Mutter auch. Zwei Drittel des Films sind wirklich passiert, das dritte Drittel ist erdichtet – ich habe zum Beispiel nicht versucht, meinen Großvater zu strangulieren. Väterlicherseits gibt es eine lange Geschichte von Einweisungen ins Irrenhaus.

Die ganze Familie war verrückt, außer meine Mutter und mir. Sonntags habe ich meine Familie in der Nervenklinik besucht. Das war übrigens nichts Trauriges, es war normal. Die Nachbarn waren auch verrückt. Der Mann von gegenüber trieb es mit seiner Tochter. Die Schwester meines Schulfreundes war seine Mutter, was er nicht wußte. Sein Vater war zugleich sein Großvater. Das war eben so. Es war okay. Man hatte ja keinen Vergleich.

War es wirklich so okay? Wenn ich mir Leolo ansehe – der versucht doch die ganze Zeit, sich von seiner Familie zu distanzieren. Er versucht zu schreiben. Das ist ja nicht gerade typisch für seine Familie.

Mein Vater machte sich Sorgen, daß ich schwul bin, weil ich immer nur mit Papier und Bleistift dasaß, anstatt Hockey zu spielen. Ich schrieb Porträts von meinem Vater, meiner Mutter, meinen Schwestern, meinem Bruder. Allerdings fing ich mit dem Schreiben nicht so früh an wie Leolo im Film, erst so mit zwölf. Und ob ich schrieb oder nicht: Ich lebte dieses Leben. Ich schlief mit meinem Bruder, der doppelt so groß war wie ich, in einem Bett. Drei Viertel der Szenen habe ich im Alter von siebzehn geschrieben.

Die Distanz, die Leolo gegenüber seiner Familie hat, ist vielleicht eher die Distanz, die ich heute als Erwachsener empfinde. Natürlich gab es auch Dinge, die ich sehr früh wahrnahm. Mein Freund wurde jeden Tag für nichts geschlagen.

Täglich gab es Schlägereien, Selbstmorde und Morde, immerzu mußte man kämpfen. Da wollte ich nicht mitmachen. Ich wußte, daß etwas falsch war, aber ich hatte keinen Begriff davon.

Es gibt einen Unterschied zwischen Leolo und Ihnen. Leolo landet am Schluß in einer Badewanne voll Eiswasser, äußerlich starr, wie tot, vollkommen in seiner Innenwelt gefangen. Sie machen Filme.

Ich bin sicher, daß ich an den gleichen Symptomen leide wie meine Schwester, mein Großvater und mein Vater. Ich glaube, das sind extrem sensible Menschen, die nur keine Möglichkeit fanden, sich auszudrücken. Mein Glück ist, daß ich diese Energie künstlerisch transformieren kann.

Ist das nicht paradox, weil die Fähigkeit zum Ausdruck Sie zugleich aus dieser Welt entfernt?

Ja. Als ich mit dem Film anfing, dachte ich, das wird ein schmerzensreicher Weg, eine Art Berg, den ich mühsam erklettern muß, aber wenn ich dann mit dem Film fertig wäre, könnte ich auf der anderen Seite gewissermaßen ganz leicht heruntergleiten. Ich hätte Erfolg. Alle Leute würden mich anlächeln und anerkennen. Aber so war es nicht. Selbst in dem Erfolg von Cannes fand ich keine Antwort auf meine Angst. Ich hatte sogar den Eindruck, daß alles noch schwärzer wird.

Ich weiß, daß ich noch keinen guten Film gemacht habe. Das Licht macht mir Probleme. Ich beherrsche es noch nicht. Ein paar Szenen haben das richtige Licht. Dann weiß ich, daß zwischen den hundert oder zweihundert Leuten, die sich den Film im Kino ansehen, eine Verbindung entsteht. Aber ich beherrsche es noch nicht. Ich habe noch keinen reifen Film gemacht. „Leolo“ ist ein ganz guter Versuch, besser als „Night Zoo“.

Wenn ich in eine Frau verliebt bin, handele ich immer, als befände ich mich in einem Film. Wenn ich eine Beziehung zu jemand habe, und sie gefällt mir nicht, dann mache ich einen Schnitt. Es muß immer sehr intensiv sein, wir müssen lachen wie Verrückte und vögeln wie Bienen. Ich habe immer das Gefühl, daß jemand mir zuschaut, und daß die Szene gut werden muß.

Ich habe keine langweiligen Tage, das lasse ich nicht zu. Meine Bekannten wissen das. Ich nehme mein Flugzeug und fliege in die Wälder, um mit Pfeil und Bogen zu jagen. Es ist ermüdend, besonders für die Leute in meiner Umgebung.