■ Serbien muß ein politischer Ausweg gezeigt werden
: Aus der Kriegslogik ausbrechen

Soll man darauf verzichten, der mörderischen Logik der serbischen Milizen Einhalt zu gebieten? Nein. Aber zunächst muß der Konflikt wirklich begriffen und Serbien ein gangbarer politischer Ausweg aufgezeigt werden, der nicht ein weiteres Mal zu einer Verstärkung der selbstmörderischen Impulse dieser Nation führt.

Die serbische Nation war 1941 bis 1945 vom Krieg genauso betroffen wie die russische oder die polnische Nation. Fast zehn Prozent ihrer Bevölkerung wurden umgebracht. Aber im Vergleich zu diesen beiden Fällen gibt es zwei erhebliche Unterschiede: die meisten Serben wurden nicht von den deutschen oder italienischen Besatzungskräften getötet, sondern vor allem von den Kroaten, den bosnischen Muslimen, den Albanern und mitunter auch von Serben, die in deren Dienst standen.

Im kommunistischen Jugoslawien, das es mit den besten Absichten verstanden hat, von grausamen Rachefeldzügen dezimierten Völkern ein brüderliches Überich aufzuzwingen, wurde den Serben die Trauer verwehrt, weil der Ausdruck des serbischen Leidens im Namen des damals herrschenden universalistischen Antifaschismus verboten wurde. Das alles entschuldigt nichts, aber es hilft zu verstehen, weshalb die Wiedergewinnung der nationalen Identität – ein Prozeß, der sich in den achtziger Jahren in Mittel- und Osteuropa überall abspielte –, in Serbien besonders bitter war und unglücklich verlief: Die nur schlecht vernarbten Wunden wurden wieder aufgerissen.

Die Koexistenz der Völker unter Tito mag Nostalgie hervorrufen. Doch sie gründete auf der Angst. Die Selbstverwaltungsdiktatur der jugoslawischen Kommunisten war zwar weich, aber trotzdem unerbittlich. Die exzessiven geopolitischen Ambitionen des Marschalls und seiner Führungsgruppe haben zwischen 1968 und 1975 in der Tat die politische Lösung verunmöglicht, die die Regierungsübernahme der liberalen kroatischen Kommunisten in Zagreb und der damals nicht weniger zahlreichen liberalen serbischen Kommunisten in Belgrad hätte ermöglichen können.

So konnte in Kroatien die katholische Rechte mit dem Sturz des Kommunismus über freie und allgemeine Wahlen eine bürokratische und unfähige Linke hinwegfegen, während der engstirnigste serbische Nationalismus sich via „Entrismus“ der lokalen kommunistischen Partei bemächtigte, die bereits ihrer Substanz, ihrer Ethik und ihrer berühmtesten historischen Führer des Widerstands und des Spanischen Bürgerkriegs beraubt war. Und das ist leider nicht alles: Zur aktuellen Tragödie hat auch beigetragen, daß das System der Selbstverwaltung es geschafft hat, die – im übrigen mittelmäßigen – Intellektuellen ins Räderwerk der Halbdiktatur zu integrieren. So hat es die Herausbildung demokratischer Antikörper, die man anderswo am Werke sah, verhindert. In Belgrad ist kein Geremek, kein Sacharow, ja nicht einmal ein Schelev aufgetaucht.

Nun gibt aber das wirre Krisenmanagement der Europäer allen Anlaß zum Pessimismus. Wir haben in der Tat drei Fehler begangen, die uns an den Rand des Abgrunds geführt haben.

– Indem man den Kreis der Interventionspartner zunächst auf die EG, dann auf die NATO begrenzte, begab man sich zu Beginn der Krise der notwendigen breiten Unterstützung. Vor allem die Amerikaner, aber auch die Russen und die Türken können nicht außen vor gehalten werden.

– Indem man wohlbegründete Forderungen Belgrads in Bausch und Bogen von sich wies, hat man zur Vergrößerung des politischen Einflusses der Extremisten beigetragen und so das mutige Unterfangen eines Panić erschwert.

– Indem man schließlich jede ernsthafte militärische Option verwarf, wurden letztlich die Leidenschaften, die zur Weißglut gebracht worden waren, bei völliger Straflosigkeit für alle Gewalttaten freigesetzt.

– Um sich bei den serbischen Gewalttätern, vor allem jenem Bodensatz der Gesellschaft, der heute in Bosnien kämpft und morgen, wenn man ihn machen läßt, im Kosovo, Gehör zu verschaffen, muß man also eine ernsthafte militärische Option vorbereiten, das heißt eine, die sich nicht darauf beschränkt, mit der Drohung eines Luftkriegs zu wedeln. Das vermag einen Gegner, der auch nur ein bißchen entschlossen ist, allemal nicht einzuschüchtern. Serbien ist nicht Irak, und Milošević und seine Freunde würden wohl mit einer öffentlichen Meinung, die ja keineswegs terrorisiert ist, Schwierigkeiten bekommen, wenn eine militärische Niederlage und die Verurteilung einiger nachweislicher Kriegsverbrecher durch ein internationales Gericht ihrem Volk die Grenzen der brutalen Aggressionspolitik aufzeigen würden.

Während die westlichen Staaten ihrem Unterfangen eine gewisse militärische Glaubwürdigkeit verleihen, müssen sie gleichzeitig den Serben Wege aufzeigen, wie sie ohne Gesichtsverlust aus der Kriegslogik ausbrechen können. Man muß den Nationalisten die Unterstützung all jener unglücklichen Serben entziehen, die glauben, sie könnten sich ohne ein Bündnis mit den Anstiftern der Massaker nicht retten. Die Serben sind ja keine Nazis.

Wenn gewisse unter ihnen für abscheuliche Verbrechen verantwortlich sind, für die man sie zur Rechenschaft ziehen wird, so geht es doch nicht um eine Ausrottungspolitik wie etwa jene der Deutschen gegenüber den Juden und Zigeunern oder jene der Roten Khmer gegenüber ihrem eigenen Volk. Von Nazis muß man in der Tat eine bedingungslose Kapi- tulation fordern.

Wenn ein Volk, das in einem von ethnischen Konflikten heimgesuchten Gebiet lebt, umstandslos zur Gewalt greift, muß man vor allem das Ende der Kämpfe und eine Lösung auf dem Verhandlungsweg zu erreichen versuchen, wie man es für die Griechen und Türken 1922, dann wieder 1974 in Zypern oder für die Inder und Pakistaner 1947 getan hat.

Eine Kantonalisierung Bosniens kann die Massaker aufhalten und einen langsamen und schwierigen Wiederaufbau der drei Gemeinschaften erlauben, die seit den massiven Konversionen der Bogomilen und der städtischen Bevölkerung zum Islam im 16.Jahrhundert diese Region geformt haben. Das albanische Problem allerdings wird in seinem ganzen Umfang explosiv bleiben. Man muß Belgrad gegenüber klarmachen, daß man nicht gewillt ist, die Vertreibung von Albanern aus dem Kosovo hinzunehmen. Ob dies nun zu einem heißen Krieg mit Albanien oder zu einem kalten Frieden führen würde: In jedem Fall wäre ein türkisches Garantieabkommen gegenüber Tirana die Konsequenz. Damit wäre die Regierung von Ankara definitiv wieder im Herzen des Balkan, während Serben, Bulgaren, Rumänen, Griechen und Albaner alles Interesse haben müßten, ihre Konflikte unter sich zu regeln.

Die Serben Kroatiens und Bosniens, die von einem Tag auf den anderen Fremde im eigenen Land wurden, haben das Recht auf Autonomie, wie wenig auch immer Serbien in gleicher Weise die Kosovo-Albaner respektieren mag.

Aus der Kriegslogik ausbrechen bedeutet, Serbien die Mittel zu seiner Entwicklung bereitzustellen, die Autonomien in den fraglichen Gebieten zu vereinbaren und die Reintegration des serbischen Staates in ein neues Südosteuropa zu fördern. Dorthin wird er nach dem Ende des jugoslawischen Mirakels zwangsläufig zurückkehren. Alexandre Adler

Historiker und Journalist, lebt in Paris