Obwohl sie dem Schweriner Innenministerium seit September vorlagen, wurden dem Rostock-Untersuchungsausschuß jene Polizeiprotokolle vorenthalten, die einen „Waffenstillstand“ mit den Gewalttätern belegen. Aus Rostock Jan Lerch

Der Pakt von Rostock

Fast ein halbes Jahr nach der Rostocker Brandnacht vom 24. August 1992 lassen sich die Ereignisse in den entscheidenden Stunden erstmals schlüssig nachvollziehen. Zwischen acht Uhr abends und Mitternacht hatte sich die Polizei anderthalb Stunden lang von der Zentralen Anlaufstelle für Asylbewerber (ZASt) zurückgezogen. Die Gewalttäter steckten daraufhin die ZASt sowie die nebenan gelegenen Wohnungen der VietnamesInnen in Brand.

Einsatzleiter Jürgen Deckert hatte einem Schweriner Hundertschaftsführer den Befehl gegeben, sich von der ZASt zurückzuziehen, obwohl die rechten Randalierer die Überhand hatten. Einem weiteren Hundertschaftsführer an der umkämpften S-Bahn-Brücke verweigerte Deckert wenig später Reserve-Einsatzkräfte mit der Begründung, die Polizei könne sich vor Ort „nicht sehen lassen“, da „ein Abkommen mit den Störern“ existiere.

Selbst der Rostock-Untersuchungsausschuß des Schweriner Landtags lernt diese Version des Geschehens erst jetzt kennen: Jene Polizeiprotokolle, die über den Kontakt der Randalierer mit der Polizei und über die „Waffenstillstands“-Anweisungen Auskunft geben, wurden den Abgeordneten bisher vorenthalten, obwohl sie der Rostocker Polizeidirektion und damit auch dem Schweriner Innenministerium seit September letzten Jahres vorlagen. Am letzten Donnerstag erhielt der Ausschuß eines der wichtigsten Dokumente – die beiden entscheidenden Seiten allerdings fehlten und mußten wiederum nachgeliefert werden (siehe Faksimile auf dieser Seite).

Der Verlauf

An jenem Montag, dem 24.8.92, bekommt der Einsatzleiter der Rostocker Polizei, Jürgen Deckert, von seinem Chef Siegfried Kordus, dem damaligen Rostocker Polizeidirektor, die Weisung, zwei Hundertschaften Bereitschaftspolizei aus Hamburg, die bereits über 20 Stunden auf den Beinen sind, aus dem Einsatz an der ZAST „herauszulösen“. „Wenn die Lage es erlaubt“, fügt Kordus hinzu, der sich wiederum einer Forderung von Mecklenburg-Vorpommerns höchstem Ordnungshüter, Landespolizeidirektor Hans-Heinrich Heinsen, fügt. Dieser hat für Montag nacht als Ersatz für die Hamburger landeseigene Kräfte zugesichert. Zwei Stunden später geht Polizeioberrat Deckert daran, die Anweisung umzusetzen.

Der Ersatz für die Hamburger, der Schweriner Hundertschaftsführer Joachim Wenn-Karamnow, kommt mit seinen Zugführern gegen 20 Uhr an den Einsatzort, um die Lage zu erkunden. Es ist relativ ruhig. Kurz nach 20 Uhr sagt Deckert dem Schweriner, er solle seine Leute nun doch nicht mehr nachholen. „Die polizeilichen Maßnahmen sind beendet“, erfährt Wenn- Karamnow von „Robbe 101“, Deckerts Funkkennung. Doch in den Beginn des Rückzugs fällt ein plötzlicher Angriff von rund 500 rechten Gewalttätern. Die Hamburger geraten in die Bredouille. Wenn-Karamnow holt also doch seine Leute nach und ersetzt die Hamburger, die nur ein kurzes Stück weiter, in Groß Klein, in neue Auseinandersetzungen verwickelt werden. In kurzer Zeit melden die Hamburger 34 Verletzte.

Wenn-Karamnow hält mit seinen Leuten die Stellung, nur einer seiner beiden Wasserwerfer funktioniert noch. Die Angreifer befinden sich zwischen der Polizei und der ZASt. Wenn-Karamnow: „Wenn die zu diesem Zeitpunkt gewollt hätten, hätten sie nur hinzugehen brauchen und einen Molli reinschmeißen können. Niemand hätte sie daran hindern können.“ Die Hundertschaft der Schweriner Bereitschaftspolizei kann sich rund eine Stunde halten. Fünf Verletzte zählt die Einheit. Wenn-Karamnow funkt an Deckert: „So ist der Einsatz wenig sinnvoll.“ Er will mehr Kräfte, um die „Störer“ (Polizeijargon) zurückzudrängen. Statt dessen erhält er um kurz nach 21 Uhr über „Robbe 50“, Funkkennung des Funkers in der Polizei-Einsatzzentrale Lütten Klein, den Befehl, sich zurückzuziehen. Wenn-Karamnow versteht die Welt nicht mehr. Mehrfach funkt er zurück, ob er sich tatsächlich zurückziehen soll. Er soll – und soll in die anderthalb Kilometer entfernte Einsatzzentrale Lütten Klein kommen. Dort angelangt, staunt er nicht schlecht: Auf dem Hof stehen rund 250 Mann – die Kräfte, die er vor Ort gebraucht hätte. Er fragt Deckert, warum er zurückziehen sollte. Und traut seinen Ohren kaum: Deckert antwortet, es gäbe eine Art Waffenstillstand mit den Störern.

Das Versprechen

Was war geschehen? Um kurz nach 21 Uhr kommt es durch Polizisten der Einheit des Hundertschaftsführer Bleeck zu einem Kontakt zwischen Gewalttätern und Einsatzleitung. Der Polizeifunker Krancke („Robbe 50“) nimmt das Angebot der Rechten entgegen. Nach seiner Darstellung bieten sie einen Waffenstillstand an, wenn die Polizei sich zurückziehe. Dann wollten sie mit eigenen Augen sehen, daß die ZASt tatsächlich leer sei – sie ihr Ziel also erreicht hätten. Sie verlangen außerdem ein Treffen mit den Polizeiführern „an einem dunklen Ort“. Das Protokoll dieses Vorgangs lag dem Untersuchungsausschuß bis vor kurzem nicht vor. Deckert gab aber inzwischen zu, er sei bereit gewesen, dieses Angebot anzunehmen – und selbst Innenminister Kupfer mußte vor dem Ausschuß zugeben, er habe später „Kenntnis von dem Kontakt“ bekommen. Deckert weiter: Der anonyme Anrufer habe sich aber dann nicht noch einmal gemeldet, und so sei nichts aus dem „Abkommen“ geworden.

Wie kam es dann aber zu dem Rückzugsbefehl an Wenn-Karamnow? Kurz nach dem Angebot war über Funk die Meldung „Beruhigung der Lage in Groß Klein“, einem Nebenschauplatz, gekommen. War das für Deckert der Hinweis, „die meinen es ernst“? War das Angebot eine Chance, den nächtelangen Kampf zu beenden? Die Vietnamesen im Nachbarhaus hatte er offenbar nicht auf der Rechnung. Obwohl er von ihrer Gefährdung wußte – ebenso wie Innenminister Kupfer, Heinsen und Kordus.

Gegen 21.45 Uhr erreicht die erste Meldung über den Brand in der ZASt die Polizeiinspektion Lütten Klein. Wenn-Karamnow will beobachtet haben, wie Deckert zum Funkgerät greift, kurz versucht, einen Kontakt herzustellen, aber sofort wieder aufgibt und, ohne eine Entscheidung zu treffen, weggeht. Unter anderem zieht er sich zu diesem Zeitpunkt – die Flammen beginnen aus den Fenstern der ZASt herauszuschlagen – für rund 20 Minuten mt dem anwesenden leitenden Oberstaatsanwalt Neumann in sein Zimmer zurück, um, nach eigenen Worten, über das „Angebot“ der Gewalttäter zu beraten. Weitere Brandmeldungen treffen ein – keine Reaktion.

Kurz vor halb elf schreien über Funk „Repin 30 und 40“, zwei Polizeizüge, um Hilfe, die in einiger Entfernung der ZASt auf der S-Bahn-Brücke sich schwerer Attacken erwehren müssen. Ihr zuständiger Hundertschaftsführer, Waldemar Skrocki, ist mit seinen anderen beiden Zügen unter den knapp 400 Mann, die sich inzwischen vor der Einsatzzentrale in Lütten Klein aufhalten. Er hört den Funker fragen: „Was soll ich denen sagen?“ Einsatzleiter Deckert: „Wir haben ein Abkommen mit den Störern und dürfen uns dort nicht sehen lassen.“

Kein Einsatzbefehl also. Zum zweiten Mal begründet Deckert einen Befehl mit einem ausdrücklichen Hinweis auf den Pakt. Skrocki rennt zu seinen beiden Zugführern und zu einem Kollegen aus Güstrow, Zugführer Reinhard Glinka, denn er braucht Leute. Gegen den Willen von Deckert brechen die vier mit Verstärkung auf, um „Repin 30 und 40“ zu Hilfe zu eilen. Skrocki hat diesen Ablauf nicht nur nach seinem „Merkbuch“ einen Tag nach den Ereignissen zu Papier gebracht, sondern ihn auch persönlich gegenüber der taz bestätigt. Unabhängig von ihm bestätigt auch einer der Zugführer, Jürgen Fisch, Skrockis Schilderung. Von der taz mit diesen Aussagen konfrontiert, konnte sich Deckert „nicht erinnern“. Vielleicht habe er gesagt, „wartet mal 'ne Sekunde, wir haben da was in der Prüfung“. Deckert hält weiter daran fest, der Kontakt mit den „Störern“ habe den Einsatzverlauf nicht beeinflußt.

Um 22.28 Uhr wendet sich, nachdem über Funk die Meldung von über hundert in dem brennenden Gebäude neben der ebenfalls brennenden ZAST eingeschlossenen Menschen gekommen ist, Wenn-Karamnow erneut an Deckert. Diesmal gibt der Einsatzleiter sein Okay. Der Schweriner rückt mit seiner Hundertschaft aus und erreicht gegen 22.40 Uhr die ZASt. Langsam bekommt die Polizei die Lage wieder unter Kontrolle – mit über einstündiger Verspätung beginnt die Feuerwehr zu löschen. Bei ihrem ersten Versuch war sie von den Randalierern vertrieben worden, weil die Polizei versuchte, mit Gewalttätern zu paktieren, die bereit waren, über Leichen zu gehen. Mit Sprechchören wie „Lyncht sie!“, „Hängt sie!“, „Räuchert sie aus!“ hatten die Rechten das Vietnamesen-Wohnheim gestürmt.

Die Verantwortlichen

Doch die Verantwortung für den katastrophalen Polizeieinsatz liegt nicht nur bei dem übermüdeten, überforderten Deckert, der Montag abend bereits 60 Stunden im Dienst war. Kordus, sein Vorgesetzter, hatte den Mann aus Bremen vor Ablauf von dessen Probezeit zurückschicken wollen, weil er ihn als „Leiter Führungsstab“ nicht für geeignet hielt. Warum dann war Kordus selbst zum fraglichen Zeitpunkt zu Hause im Bett? – wie er jetzt erstmals gegenüber der taz zugab, nachdem er zuvor stets behauptet hatte, er sei nur „ein Hemd wechseln“ gewesen. Warum war Landespolizeidirektor Hans-Heinrich Heinsen im heimatlichen Lübeck? Heinsen wußte nicht nur von den schweren Ausrüstungsmängeln der Rostocker Polizei. Er wußte auch, daß Kordus und Deckert seit Sonnabend ununterbrochen im Einsatz waren.

Und wo war, als es brannte, Mecklenburg-Vorpommerns Innenminister Lothar Kupfer? Zu Hause in Ahrenshagen. Und ebenfalls nicht zum Wäschewechsel, wie auch er immer behauptet hat. Letzten Freitag erzählte er vor dem Untersuchungsausschuß, er habe Fahrer und Leibwächter gegen 22 Uhr zum Übernachten in ein weit entferntes Hotel geschickt – und mußte sie erst herbeitelefonieren, um nach Rostock zurückzukehren. Da war es zu spät.

Die Entscheidung, die ZASt zu räumen, habe „keine politische Bedeutung“, behauptet Kupfer noch heute. Vielleicht wäre ihm die politische Bedeutung bewußt geworden, hätte er in jener Nacht selbst mit den Gewalttätern über deren angebliches „Waffenstillstands“-Angebot verhandelt.