■ Der Bürger hebt die Füße, der Politiker hält den Mund
: Der Skandal ist anderswo

Der Deutsche als solcher ist gut zu Fuß. Die Arbeitsteilung der letzten Monate war die zwischen Kopf- und Beinarbeit: die Politiker richten den Schaden an, die Presse berichtet denselben und das Volk erläuft auf der Straße mit Kerzen den Ablaß. Während die Bevölkerung aber zunehmend empfindlich auf den gesellschaftlichen Schaden reagiert, den die Asyl-„Debatte“ beispielsweise angerichtet hat, nimmt die Presse ihrerseits ihre kritische Rolle mit abnehmendem Bewußtsein wahr: Skandälchen der pikanten Art wie Schwaetzers Konto, Lafontaines Freunde, Möllemanns Vetter und Weizsäckers Töchterchen werden zur Parteienkrise hochgejubelt, während ein wirklicher Skandal – wie jetzt in Schwerin aufgedeckt – keinen Kommentator zum Grübeln bringt.

Erinnern wir uns: Die Pogrome von Rostock wurden noch von den dickfelligsten öffentlichen Dinosauriern als eine Zäsur der Nachkriegsgeschichte begriffen; sie haben, wenn auch verspätet, den Rechtsradikalismus und die gewalttätige Ausländerfeindlichkeit zu einer Koordinate in der politischen Diskussion gemacht. Nun liegen dem Schweriner Untersuchungsausschuß Berichte vor, aus denen hervorgeht, daß das schwerstwiegende Versagen seit der Vereinigung von der Polizeiführung gewollt und politisch gedeckt war: Die Inhaber des Gewaltmonopols haben auf dessen Ausübung schlicht verzichtet und Hunderte in Deutschland lebende AusländerInnen dem Mob ausgeliefert. Es gibt also zwei Täterschaften: die Brandstifter und die Politiker. Bei den ersteren führte der gelobte Rechtsstaat in milder Form vor, was er kann, von den zweiteren läßt er sich vorführen. Ein öffentliches Aufheulen angesichts der jüngsten Ergebnisse im Schweriner Untersuchungsausschuß ist keineswegs vernehmbar; es besteht auch wenig Hoffnung, daß Kupfer tatsächlich wegen „unterlassener Hilfeleistung“ strafrechtlich belangt wird. Und selbst wenn – die juristische Verfolgung der Verantwortlichen ersetzt ja nicht die öffentliche Geißelung. Statt derer werden die lebensgeschichtlichen Verfehlungen des Oskar Lafontaine ausführlich diskutiert, und es wird nicht lange dauern, bis die nächste läßliche Sünde zu den üblichen länglichen Erwägungen über den Verfall der politischen Moral Anlaß gibt: Jedoch der Staatsnotstand ist anderswo. Auf Kupfers Rücktritt warten wir vergeblich: Was muß noch passieren, daß er und andere dazu gezwungen werden und daß der Skandal der BRD verortet wird, wo er ist: in Schwerin und längst schon in Bonn. Elke Schmitter