Kleine Kunstwerke vs. Boxkampf

Uraufführungen in New York: Millers „The Last Yankee“ und Mamets „Oleanna“  ■ Von Peter Münder

„Jeder halbwegs normale Mensch muß doch in diesem Land einfach Depressionen bekommen“, sagt der Geschäftsmann John Frick in Arthur Millers neuestem Stück „The Last Yankee“. Der einstündige Zweiakter, der jetzt im Manhattan Theatre Club aufgeführt wurde, ist in einer Anstalt angesiedelt, in der psychisch Gestörte behandelt werden. Der erfolgreiche Frick, der hier seine depressive Frau besucht, trifft im Wartezimmer den jungen Leroy Hamilton, einen eigenwilligen Tischler, dem seine berühmten Vorfahren, unter ihnen auch einer der amerikanischen Gründungsväter, herzlich gleichgültig sind. Hamilton, dessen Frau ebenfalls wegen Depressionen therapiert wird, ist der letzte Yankee, der sich in seinen altmodisch wirkenden Überzeugungen und Wertvorstellungen nicht beirren läßt. Ihm geht es nicht um den schnellen Dollar oder um das blendende Prestige, er will einfach nur – und das klingt im Amerika unserer Tage natürlich geradezu lächerlich – mit seiner eigenen Arbeit kleine Kunstwerke schaffen und damit glücklich sein.

Offensichtlich sieht sich Arthur Miller, der ja schon sein letztes, in London uraufgeführtes Stück „The Ride Down Mount Morgan“ als Krankenhaus-Komödie gestaltete, in der Position eines Arztes, von dem man immer noch die Diagnose amerikanischer Verhältnisse erwartet, obwohl sich sein Lieblingspatient, der „American Dream“, schon seit Jahrzehnten im Koma befindet.

Die beiden depressiven Frauen, die Miller schließlich im zweiten Akt zu Wort kommen läßt, wirken gegenüber dem knorrigen, nörgelnden Frick und dem ausgeglichenen Hamilton seltsam blaß und irritierend. Die aus einer schwedischen Emigrantenfamilie stammende Patricia Hamilton leidet unter einer sublimen Form von Größenwahn und will sich nicht damit abfinden, daß ihr Mann weder Rechtsanwalt noch Politiker werden wollte, sondern sich mit seinem Handwerker-Job begnügt. Und Karen, die total verunsicherte Frau des autoritären Frick, traut sich nicht einmal eine eigene Meinung zu – sie hat sich ihr Leben lang als dumme Gans herumschubsen lassen. In einer tragikomischen Szene hat sie einen rührenden Auftritt als unbeholfen herumtapsende Steptänzerin, doch selbst diesen harmlosen Spaß vergällt ihr der verbiesterte Frick, der dieses Hobby seiner Frau für eine alberne Kinderei hält.

Als habe er gerade einen Kurs im positiven Denken absolviert, ermuntert Hamilton seine Frau, die Anstalt zu verlassen und wieder in den Schoß der Familie zurückzukehren. „Es ist alles nur eine Frage der richtigen Einstellung“, lautet seine Weisheit. Doch gerade jetzt, da der Zuschauer darauf gespannt ist, wie sich die Figuren mit ihren gegensätzlichen Wertvorstellungen zurechtfinden, endet das Stück. Ist das also Arthur Millers Patentrezept: Reißt Euch ein bißchen am Riemen, don't worry, be happy? Hamilton ist als Kritiker plump materialistischer Wertvorstellungen das Sprachrohr des letzten Yankees Arthur Miller, der so klingt, als habe er seinem längst in den Ruhestand abgetauchten Handlungsreisenden Willy Loman noch einmal ein paar Überstunden mit den dazu passenden Sentenzen abverlangt.

Obwohl Regisseur John Tillinger eine grundsolide, ohne spektakuläre Effekte auskommende Arbeit liefert und die schauspielerischen Leistungen von Tom Aldredge (Frick) und John Heard (Hamilton) beeindruckend sind, honorierte das Publikum diesen müden Miller-Aufguß nur mit lustlosem Applaus.

So wenig originell wie sein Stück wirkt Miller auch, wenn er sich in der Öffentlichkeit über den desolaten Zustand des amerikanischen Theaters ausläßt. In einem Vortrag im New Yorker YMCA wiederholte er nun anläßlich der Uraufführung seines neuen Stücks seine bekannten Ansichten über den heruntergekommenen Broadway und die Vorteile des europäischen Subventionssystems. Die Zuschauer hätten kein Interesse mehr am Broadway, so Miller, weil die Tickets einfach zu teuer seien. Außerdem würde das Fernsehen mit lukrativen Angeboten die Dramatiker abwerben, so daß es kaum noch attraktive zeitgenössische Stücke gebe.

Nach der Devise: Nicht lange schwafeln, sondern einfach gute Stücke schreiben, zeigt dagegen der routinierte Dramatiker und Drehbuchschreiber David Mamet, wie man diese amerikanische Theaterkrise in den Griff bekommt und das abgebrühte New Yorker Publikum zu hitzigen Diskussionen hinreißt. „Das ist zweifellos das provozierendste Stück dieser Theatersaison“, meinte Frank Rich, der Papst der amerikanischen Theaterkritik, in der „New York Times“ über „Oleanna“, Mamets Beitrag zum Thema politisch korrektes Verhalten und sexuelle Belästigung. Für Mamet, der sich ja auch als Spezialist für knallharte Filmdialoge – wie etwa in „Homicide“, „The Untouchables“, oder in „Hoffa“ – einen Namen machte, ist die Welt ein brutales Schlachtfeld, auf dem manch unschuldiges Opfer auf der Strecke bleibt. Der brutal-realistische Jargon und die nicht eben zimperlichen Umgangsformen seiner Bühnenfiguren sind sicher auch durch die eigenen Erfahrungen des Pulitzerpreisträgers geprägt, der sich ja früher selbst als Taxifahrer, Koch, Grundstücksmakler und Lehrer durchschlug.

Der Zweiakter „Oleanna“ ist ein Power Play, das dem von Mamet früher schon dargestellten Lehrer-Schüler-Konflikt eine ganz neue, gesellschaftspolitische Dimension verleiht. Da will der Hochschullehrer John, ein pedantischer, ziemlich eitler, doch eher gutmütiger Typ, seiner Studentin Carol, einer grauen Maus im zerfledderten Sackkleid, mit zwar gutgemeinten, doch eher herablassend altväterlich vorgebrachten Tips noch einmal die Chance geben, ihre indiskutable Semesterarbeit und ihre Prüfungsergebnisse zu verbessern. Während er sich bei Carol mit ironischen Bemerkungen über lächerliche Erziehungsrituale und mit Platitüden wie „Mich hielten früher auch alle für dumm“ anbiedert, legt er kurz seinen Arm um ihre Schulter. Mit dieser harmlosen Geste endet der erste Akt.

Und plötzlich, zu Beginn des zweiten Aktes, sind wir mittendrin in einem gnadenlos geführten Vernichtungsfeldzug. Carol hat nämlich John, der seine endgültige Ernennung zum Professor erwartet, öffentlich beschuldigt, sie sexuell belästigt und geschlagen zu haben. Nun will der aufgebrachte John, ein Mann mit Common sense, der meint, im direkten Gespräch diese aberwitzigen Anschuldigungen aus der Welt schaffen zu können, Carol davon überzeugen, daß er, wenn sie ihre Beschwerde nicht annulliere, völlig ruiniert sei.

Die anfangs noch imbezil wirkende Carol, die sich kaum artikulieren konnte, entpuppt sich nun als Sprachrohr einer Feministengruppe, die es den bornierten Macho-Typen endlich mal zeigen will und obendrein noch ihre eigenen Vorstellungen von einem „aufgeklärten“ Curriculum durchsetzen will. John sei sexistisch, elitär und nur am Genuß seiner Macht über Abhängige interessiert, tönt die plötzlich selbstsicher und eloquent auftretende Carol. Ihre Beschwerde werde sie nur zurückziehen, wenn die Leseliste ihrer Gruppe als offizieller Lehrplan anerkannt werde und John sein eigenes, selbst verfaßtes Lehrbuch aus dem Curriculum verbanne, verkündet Carol. Da brennen bei dem sonst so souveränen Lehrer die Sicherungen durch und es kommt zum Handgemenge, das das New Yorker Publikum mit ermunternden Zwischenrufen begleitet: Die renitente Carol wird von John so brutal zusammengeschlagen, daß einem angst und bange um die kleine, zierliche Rebecca Pidgeon wird.

David Mamet hat sein Stück selbst mit einem wunderbaren Gespür für das richtige Timing der knappen Dialoge und der brillanten Telefonmonologe inszeniert. Die aggressive Konfrontation der unter Hochdruck agierenden Schauspieler, und das ist das Einmalige dieser Produktion, überträgt sich direkt auf das Publikum, das äußerst engagiert, mit empörten oder aufmunternden Zwischenrufen, reagiert und für eine angeheizte Stimmung im ohnehin schon überhitzten kleine Orpheum Theatre sorgt, in dem nach Mamets eigener Anordnung die Klimaanlage ausgeschaltet bleibt. Erregt, begeistert, aber auch erschöpft wie nach einem 15-Runden-Boxkampf, verlassen die Zuschauer schließlich diese Theater- Arena, vor der sie draußen im eiskalten Wind noch heftig weiter diskutieren. Über Recht oder Unrecht der Protagonisten läßt sich lange streiten, da die Figuren so vielschichtig angelegt sind, daß man selbst für die militante Rechthaberin Carol angesichts des eitlen Guru-Gehabes ihres Lehrers Verständnis hat.

Daß der Pragmatiker und Realist Mamet, ganz im Gegensatz zum Nostalgiker Miller, ein so brillantes, hochaktuelles Stück geschrieben und inszeniert hat, liegt wohl auch daran, daß er das Theater nicht, wie Miller, von anderen gesellschaftlichen Prozessen isoliert oder etwa als esoterisches, besonders schutzwürdiges Gebilde betrachtet: „Natürlich befindet sich das amerikanische Theater in einem desolaten Zustand“, konstatiert Mamet. „Aber wieso auch nicht? Das Theater, die Autoproduktion, der Lebensstandard, alles hat sich verschlechtert. Man kann das Theater doch nicht getrennt von unserer gesamten Zivilisation betrachten. Die Welt hat sich eben verändert, aber nichts ist für die Ewigkeit. Wir hatten Tennessee Williams, wir hatten den Hula- Hoop und den Edsel und andere gute Sachen, wie etwa die Verfassung. Jetzt müssen wir eben die Rechnung begleichen – aber was soll's!“

„The Last Yankee“ von Arthur Miller im Manhattan Theatre Club, New York. Regie: John Tillinger. Mit Tom Aldredge, John Heard.

„Oleanna“, Buch und Regie: David Mamet, im Orpheum-Theatre, New York. Mit Rebecca Pidgeon, William Macy