Der dritte Strom im Zweistromland

Die irakische Regierung ließ einen Kanal im Süden bauen, der nicht nur wirtschaftlichen Nutzen hat: Den schiitischen Rebellen im Sumpfgebiet wird buchstäblich das Wasser abgegraben  ■ Aus Basra Henri Heron

Seit Dezember letzten Jahres hat der Irak einen neuen Namen: Er heißt nun nicht mehr Mesopotamien – Zweistromland –, sondern Tripotamien – Dreistromland. Neben Euphrat und Tigris gibt es nämlich neuerdings einen „dritten Strom“, und der heißt – wie könnte es anders sein – „Saddam-Hussein-Fluß“.

Durch den neuen 565 Kilometer langen Kanal läuft jetzt das kostbare Naß aus der Gegend der irakischen Hauptstadt Bagdad bis zur südirakischen Stadt Basra. Es gehört zu den Heldengeschichten vom „Wiederaufbau“, die irakische Parteifunktionäre besonders gerne erzählen, wie es trotz der Blockade und dem Mangel an Baumaterial und Ersatzteilen gelungen ist, in nur sechs Monaten das Flußbett auszuheben.

Rund achttausend Arbeiter und Ingenieure seien dafür Tag und Nacht im Einsatz gewesen, viertausend Baumaschinen hätten bereitgestanden, um das „Wunder des Irak“ in so kurzer Zeit fertigzustellen. 32 Auto-, 33 Fußgänger- und vier Zugbrücken seien über den neuen Wasserweg errichtet worden. Außerdem seien Dutzende von Kanälen gebaut worden, um Wasser aus der Umgebung einzuleiten.

Man ahnt, wie dieses „großartige Projekt“ gelingen konnte, wenn man weiß, daß es von Saddam Husseins Schwiegersohn Hussein Ali Kamil geleitet wurde, der früher für den Aufbau des irakischen Militärapparates zuständig war. Das ist zugleich ein Verweis darauf, daß dieses Vorhaben keineswegs nur von wirtschaftlicher Bedeutung ist.

Offiziell wird aber nur von dieser Seite des Projekts gesprochen: „Der neue Fluß wird zu einer wirtschaftlichen Revolution im Irak führen“, erklärte ein hoher Regierungsbeamter. Mit seiner Fertigstellung sei das jahrtausendealte Problem der Bodenversalzung im Südirak gelöst worden. „Der Fluß wird den salzigen Boden zwischen Euphrat und Tigris auswaschen und ihn für die Landwirtschaft nutzbar machen. Damit werden unsere Anbauflächen um rund sechs Millionen Dunum (eine Million Hektar) erweitert.“ Der Irak, der vor der Verhängung des Embargos durch den UN-Sicherheitsrat jedes Jahr Agrarprodukte im Wert von drei bis vier Milliarden US-Dollar importieren mußte, wird sich nach offiziellen Angaben in Zukunft ganz und gar selber versorgen können.

Doch wird der neue Fluß nicht nur die Agrarwirtschaft des Landes verändern. Angeblich sollen unter den Sümpfen große Ölvorkommen liegen. Durch ihre Erschließung könnte der Irak seine Reserven nach Expertenschätzungen mindestens verdoppeln.

Strategische Überlegungen

Politische Beobachter in Bagdad sehen aber darüber hinaus andere, vor allem strategische Überlegungen, die bei der Planung des gigantischen Vorhabens ausschlaggebend waren. Es hat eine innenpolitische und eine außenpolitische Bedeutung: Da ist zum einen die Sicherheit der Wasserversorgung des Irak, die sich durch die türkischen Staudammprojekte am nördlichen Euphrat dramatisch verschlechtert hat. Der neue Fluß soll die südlichen Sümpfe als neue Wasserquelle erschließen.

Doch das erste und wichtigste Ziel war nach Meinung von Diplomaten in Bagdad, ein altes innenpolitisches Problem des Irak, das sogenannte „Problem des Südens“, ein für allemal zu lösen. Den Widerstandskämpfern im Süden des Landes soll durch das neue Projekt buchstäblich das Wasser abgegraben werden. Denn die dortigen großen Sumpfgebiete, kurz „Al Ahwar“ – „die Sümpfe“ genannt, dienten dem schiitischen Widerstand gegen das Regime in Bagdad bislang als Operationsbasis und Versteck. Der neue Fluß soll dazu führen, daß sie allmählich austrocknen und damit für die Armee zugänglich werden.

„Al Ahwar“, das war lange ein 15.000 Quadratkilometer großes, weitgehend unberührtes Stück Natur, wo nur 50.000 Menschen auf winzigen selbstgebauten Inseln lebten. Traditionell schichten sie Ried und Schilf aufeinander, füllen die Zwischenräume mit Lehm und errichten darauf ihre Schilfhütten. Zwischen diesen Inselchen bewegen sie sich mit Kanus, den sogenannten „Madschahief“ oder „Falika“. Die Hauptnahrungsmittel sind Wasserbüffel, Fische und Wildschweine. Noch immer gibt es Vogelsorten, die ansonsten fast ausgestorben sind. Nach Meinung von Archäologen sind die Bewohner der „Ahwar“ Nachfahren der Sumerer und der arabischen Stämme, die im neunten Jahrhundert Mesopotamien eroberten.

Aber sie sind schon lange nicht mehr die einzigen Bewohner der „Sümpfe“. Nach Schätzungen verstecken sich hier derzeit rund zehntausend bewaffnete Kämpfer der schiitischen Opposition. Vor den Soldaten der irakischen Armee suchen sie den Schutz dieses riesigen, unzugänglichen Feuchtbiotops. Nicht erst seit den großen Aufständen während des Golfkrieges sind die „Sümpfe“ Rückzugsgebiet und Zuflucht für alle, die sich dem Zugriff der Regierung zu entziehen suchen. Die „Ahwar“ waren schon immer Symbol und Ort des Widerstandes gegen die Zentralgewalt, ebenso gegen ausländische Eroberer. An dem Versuch, das Gebiet einzunehmen, scheiterte schon Alexander der Große, der an den Ufern des Tigris einem Fieberanfall erlag. Die schwarzen Sklaven retteten sich während ihrer großen Aufstände gegen die Abassidenherrschaft im neunten Jahrhunderts in die „Ahwar“. Man könnte die Reihe der Widerstandsgeschichten aus den „Ahwar“ endlos fortsetzen.

Republik der Fahnenflüchtigen

Noch Mitte der sechziger Jahre, als ein radikaler Flügel der irakischen Kommunistischen Partei versuchte, den bewaffneten Kampf gegen die Regierung aufzunehmen, waren die „Ahwar“ der geeignete Ort für den ersten Schuß. Und in den achtziger Jahren, während des ersten Golfkrieges zwischen dem Iran und dem Irak, wurden die „Ahwar“ zur „Republik der Fahnenflüchtigen“. Zu Tausenden setzten sich irakische Soldaten in die Sümpfe ab, die ihr Leben nicht auf den Schlachtfeldern lassen wollten.

Als die großen Aufstände im „zweiten Golfkrieg“ vor zwei Jahren niedergeschlagen wurden, kam es zur größten Fluchtbewegung in die Sümpfe: Schätzungsweise zweihunderttausend Menschen suchten dort Schutz vor der Rache der irakischen Armee.

Die Grenzen des Gebietes zum Iran sind kaum zu kontrollieren, so daß die bewaffneten Gruppen des proiranischen schiitischen Untergrundes ungehindert herüberkommen konnten.

Damit soll es jetzt ein Ende haben: „In Zukunft können wir die Aufständischen mit Fahrrädern erreichen“, frohlockt ein offensichtlich besonders Saddam-treuer Soldat.