Der ideelle Klavierspieler...

... und die Sache mit der Werktreue: erledigt, aus und vorbei. Zehn Fragen an den Pianisten Anatol Ugorski – gestellt  ■ von Elisabeth Eleonore Bauer

Anatol Ugorski, 1942 in Rubzowsk (UdSSR) geboren, wurde 1948 in die Klavierklasse der Musikschule Leningrad aufgenommen, obwohl er bis dahin noch nie Klavier gespielt hatte. „Als Schüler unbegabt“, sagte einer seiner späteren Lehrer über ihn, „er nimmt Einflüsse nicht an. Aber ein begabter Pianist.“ Seit 1962 gab Ugorski öffentlich Konzerte, aber als er eines Tages bei einem Boulez-Konzert begeistert applaudierte, wurde er vor ein Komitee zitiert und quasi mit ,Berufsverbot‘ belegt: Fortan durfte er nur noch eingeschränkt konzertieren. 1982 gab man ihm schließlich eine Professur am Leningrader Konservatorium. Im Juli 1990 verließ er die Sowjetunion. Im April 1992, als Fünfzigjähriger, hat Ugorski seine ersten Schallplattenaufnahmen bei der Deutschen Grammophon veröffentlicht. Seit Oktober 92 ist Ugorski Professor an der Musikhochschule Detmold. Manche Kritiker finden seinen Stil unverantwortlich, andere nennen ihn genial. Nur mit Gleichmut läßt sich Ugorski nicht gut anhören.

taz: Gibt es geniale Interpreten? Oder kann ein Klavierspieler nur kongenial sein?

Anatol Ugorski: Es klingt heutzutage immer ein bißchen verdächtig, wenn man einen Interpreten ,genial‘ nennt. Das hat mit dem historischen Wandel zu tun: früher waren die Musiker produzierende und reproduzierende Künstler zugleich; von Scarlatti bis zu Beethoven, ja, bis hin zu Liszt und Prokofjev haben Klavierspieler komponiert und Komponisten öffentlich Konzerte gegeben. Man kann natürlich auch einfach behaupten, daß es viele verschiedene Formen von Genialität gibt. Dann ist jeder Mensch genial – auch die Art, wie jemand Etüden übt, kann genial sein. Für mich liegt die Grenze da, wo das Spiel mehr ist als eine schöne Kopie. Wenn ich zum Beispiel das Gefühl habe, ich kenne ein Werk sehr gut: und höre dann, sagen wir, Glenn Gould mit den Englischen Suiten von Bach und muß feststellen, daß ich das Werk überhaupt noch nie gekannt habe. Also gut, Gould war genial. Aber sonst würde ich mit diesem Begriff sehr vorsichtig sein.

Komponieren Sie selbst?

Nur ein bißchen. Ich habe zum Beispiel vor vielen Jahren in der Sowjetunion eine Klavierschule geschrieben. Das war eine Art Aufforderung zur Klavierübung, mit vielen sehr kleinen Stücken, oder eher eigentlich Embryonen zu Musikstücken: eine Art Minimal music. Das hat mit meinem Klavierspiel sehr viel zu tun.

Warum spielen Sie Scarlatti so, als wär's ein Stück von Schumann?

Ich empfinde diese fantastischen Züge in den Sonaten von Scarlatti ganz unmittelbar: all diese exzentrischen und extremen Absonderlichkeiten. Da wird z.B. ein Ton wieder und wieder repetiert, und Scarlatti macht daraus ein Kunstwerk. Er war eben sehr narzistisch, etwa so, wie nur ein Kind narzistisch sein kann. Scarlattis Sonaten sind wie Liebeserklärungen an sich selbst. Es liegt ein gewisser Wahnsinn in seinem Schaffen, der zu dieser Musik dazu gehört. Spart man diesen verrückten Zug aus, dann bleibt nur etwas ziemlich Mittelmäßiges übrig oder eigentlich gar nichts (wenn Sie übrigens die fantastischen Züge bei Schumann weglassen, bleibt auch nicht viel). Aber ich finde es schwierig, Musik in Worte zu fassen. Zum Beispiel hatte ich vor Jahren einmal das sehr schöne Buch von dem Scarlatti-Forscher Ralph Kirkpatrick gelesen und dachte mir, wie wunderbar: dieser Mann hat viele Jahre in Spanien und Italien gelebt, hat alle Quellen gründlich erforscht und kommt zu ganz ähnlichen Eindrücken wie ich, der ich hier nur in Rußland sitze am Klavier! Später habe ich dann Aufnahmen gehört mit Kirkpatrick und merkte, das alles war ein Mißverständnis. Würde ich mit Kirkpatrick nur reden über Scarlatti, dann wären wir wahrscheinlich Verbündete; aber nehmen wir an, er spielt mir Scarlatti vor, und ich spiele ihm Scarlatti vor: wir wären gewiß die größten Feinde. Sie sehen also, Worte helfen nicht viel bei der Musik.

Glauben Sie, daß es so etwas gibt wie Werktreue?

Eine Treue gegenüber dem Werk kann es nur geben, wenn man glaubt, daß der Notentext eine genaue Fixierung des Werkes im Sinne des Komponistenwillens sei. Aber die Notenschrift überliefert ja nur Annäherungen an das, was dann als Werk erklingt. Abgesehen davon finde ich etwas anderes viel wichtiger in der Musik: nämlich die Komponente der Freiheit. Wäre die nicht, dann könnten wir von allen Stücken, die je komponiert wurden, ganz einfach eine einzige, wirklich werktreue Fassung erarbeiten, und damit wäre die Sache erledigt, aus und vorbei. Man müßte bloß noch ein Tonmuseum einrichten, in dem die gesamte Musikliteratur werktreu aufbewahrt wird, und kein Mensch hätte es mehr nötig, diese Musik selbst zu spielen. In den Konzertsälen genügten dann ein paar Lautsprecher.

Ist der klassische Konzertbetrieb nicht sowieso schon eine Art Musikmuseum?

Ich wünschte, daß dem nicht so wäre. Aber ein bißchen ist es so, leider. Ich finde es ein Glück, daß zur Ästhetik der Musik auch noch die persönliche Ausstrahlung der Musiker dazugehört: gewisse charismatische Züge, die das Publikum bei den Interpreten findet. Außerdem ändert sich das, was man für historisch authentisch und der Quellenlage nach für werktreu hält, im Laufe der Zeit. Gerade in Deutschland, wo die Musikwissenschaft so eine große Tradition hat, läßt sich das gut beobachten. Was Leute wie Arnold Schering als echten Beethoven angesehen haben, das ist etwas ganz anderes als zum Beispiel der echte Beethoven bei Hans Heinrich Eggebrecht. Und vielleicht kehren wir in zwanzig Jahren wieder zurück zu der Auffassung von Schering – einfach nur, damit eine Vortäuschung von Bewegung stattfindet. Vieles an der authentischen Aufführungspraxis heutzutage ist nichts als modische Manie. Ich persönlich glaube ja nicht an Werktreue: ich kann vielleicht einem Werk treu sein, aber das heißt doch noch lange nicht, daß das Werk mir auch treu bleibt! Andererseits habe ich natürlich nichts dagegen, wenn andere an Werktreue glauben. Es ist ein Extrem, und ich finde, Extreme sind alle sehr schön, das eine wie das andere. Wenn man doch davon ausgehen muß, daß es eigentlich in Wirklichkeit keine Werktreue gibt – ist dann nicht das Streben danach etwas Gutes?

Warum spielen Sie alte Musik, als wäre sie neu – und neue Musik, als wäre sie alt?

Tue ich das? Ich glaube, ich mache keine so großen Ansprüche. Natürlich weiß man, daß es in der Musik jeder Epoche Strömungen gibt, die auf die Zukunft verweisen und andererseits konservative Strömungen. Womit keine Wertung verbunden sein soll: ich will nicht behaupten, Zukunft sei gut und Vergangenheit schlecht oder umgekehrt. Es ist einfach so. Die Sonatenform zum Beispiel war mit Beethovens letzter Sonate eigentlich kompositorisch abgeschafft, obwohl danach noch viele sehr schöne Sonaten von Brahms oder Chopin geschrieben wurden. Diese Sonaten sind wie ein Nachklang der Sonatenform. Die neue Musik dagegen hat eine Tendenz zur Digitaltechnik, denken Sie etwa an den Pointillismus bei Webern. Und doch können Sie ohne weiteres bei Beethoven Züge finden, die nicht analog sind, sondern sozusagen digital. Oder gehen wir noch weiter zu dem charakteristischen Stil, der für Schumann typisch war oder für Tschaikowsky und so weiter. Heutzutage existiert das alles zusammen. Das heißt: Wir können einen bestimmten Stil mit den Augen eines ganz anderen Stils sehen. Es gibt viele Spiegel, und ein Spiegel ist in vielen anderen Spiegeln widergespiegelt. Das mag irritierend sein und ein verworrenes Bild ergeben, aber es ist doch zugleich auch reizvoll. So kann ich auch ältere Musik ganz anders hören und spielen. Ich finde das immer lohnend. Die Musik ist ein Kosmos. Und Geschichte kann die Geschichte eines Tones sein.

Ist Beethoven schwer zu spielen?

Wenn Sie wissen wollen, ob Beethoven schwer oder leicht zu spielen sei, müssen Sie schon genauer nachfragen: inwiefern schwer, und was ist schwer für wen? Die Bagatellen op. 126 zum Beispiel sind technisch überhaupt nicht kompliziert, und ich habe sie trotzdem lange Zeit nicht öffentlich im Konzert gespielt. Oder nehmen wir diesen langen, hohen Triller auf g ganz am Ende der Sonate op. 111: sehr einfach. Aber in diesem Triller findet irgendwie ein Zusammenstoß statt zwischen Abstraktion und Sinnlichkeit. Dieser Triller verweist uns auf ein Naturereignis, etwas Höheres, einen offenen Himmel und dergleichen. Es ist ein Geheimnis, warum wir alle soviel bei diesem Triller empfinden. Schließlich handelt es sich nur um einen einfachen Triller, wie in einer Kadenz, nichts weiter. Und er ruft doch viel, viel mehr hervor, als eigentlich positivistisch nachweisbar ist. Schwer zu sagen, warum das so ist, aber es kostet harte Arbeit, diesen simplen Triller mit all seinen Abstraktionen richtig zu spielen. Wir haben es in der Musik immer mit Illusionen zu tun, die Spieler, aber auch die Zuhörer. Etwa bei Chopin hat man die Illusion, daß das Klavier singt. Tatsächlich lassen sich seine Melodien nicht wirklich singen, kein Sänger hat so einen langen Atem. Trotzdem gibt es eine gewisse Kunst im Klaviersatz, die dazu tendiert, das Klavier als singendes Instrument erscheinen zu lassen. Dagegen gibt es bei Messiaen die Illusion zwitschernder Vogelstimmen – allerdings finde ich, daß gerade dies in Wahrheit der Natur des Klaviers sehr gut entspricht. Für einen Hörer, der an Beethoven geschult ist, muß es eine große Anstrengung bedeuten, Messiaen zu hören. Er versteht es nicht: das soll alles sein? Dabei ist es nicht wenig! Für mich ist Beethoven oft eine große Anstrengung, wegen der ab-

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strakten Züge. Ich spiele trotzdem Beethoven, weil ich weiß: wenn mir etwas nicht leicht fällt, dann habe ich die größere Chance, daß am Ende etwas Gutes dabei herauskommt.

Ist es Ihnen egal, wer zuhört? Oder ob man Ihrem Spiel überhaupt zuhört?

Ich würde gerne so tun, als sei es mir egal. Manchmal ist es das auch. Wenn ich hochkonzentriert bin, dann befinde ich mich ein bißchen in einer Art Trance – dann ist mir alles andere gleichgültig, ich merke es nicht einmal. Nach einem Recital neulich in Berlin hat man mir hinterher gesagt, der Flügel sei kaputt gewesen und das Pedal habe die ganze Zeit geklirrt. Ich hatte davon wirklich überhaupt nichts gemerkt. Aber andererseits spielt es offenbar doch eine Rolle, wo und für wen ich spiele. Morgens, wenn ich für mich allein spiele, bin ich oft an der Grenze der Verzweiflung. Die Musik ist reglos, ich sehe nur tote Zeichen und verstehe nicht, wo der Zusammenhang ist. Abends im Konzert geht es dann irgendwie immer von selbst. Das Publikum heizt mich an, es gibt da so eine merkwürdige Mischung aus Entrückung und Konversation. Früher in der Sowjetunion mußte ich sehr häufig spielen vor sogenanntem unvorbereitetem Publikum – Menschen, die überhaupt zum ersten Mal klassische Musik hörten: Arbeiter, Bauern, junge Pioniere, irgendwo in der Provinz. Dieser Mangel an Vorbereitung, finde ich, war irgendwie auch ein Vorteil. Wenigstens fehlten die Vorurteile beim Hören, und Respekt vor den Namen hatten diese Leute auch nicht. Scarlatti zum beispiel war für sie nichts weiter als eine Erinnerung an eine Kinderkrankheit (scarlatina, also das Scharlachfieber).

Wo spielen Sie lieber: live vor Publikum oder im Studio für das Mikrophon?

Im Studio treffe ich leichter genau das, was ich mir vorgestellt habe. Man sagt zwar, daß ein Musikwerk nur im lebendigen Konzert seine endgültige Form findet, aber das trifft nicht für jede Musik zu. Eine ungarische Rhapsodie von Liszt z.B. hat ihre eigentliche Existenzform im Konzertsaal, auch viele Werke von Rachmaninow. Es gibt eben Musik, die braucht den Applaus am Ende. Aber bei einigen Beethoven-Sonaten bin ich mir nicht so sicher, ob sie wirklich im Konzert erklingen sollen. Da habe ich eher den Eindruck: der Adressat, für den diese Musik gedacht war, ist der Spieler selbst. Und zwar nicht etwa in dem Sinne, daß er das Stück durchspielen soll von Anfang bis Ende. Er kann unterbrechen, er kann immer wieder zurückkehren zu bestimmten Stellen, er kann zwischendurch aus einem anderen Stück spielen, er kann mit der Musik über die Musik meditieren. So etwas geht nicht im Konzert, aber es funktioniert sehr gut im Studio. Mikrophone sind die besseren Zuhörer. Wenn ich für Mikrophone spiele, ist es anders als im Konzert und auch anders, als ob ich privat ganz für mich allein spiele. Ich spiele sozusagen für den ideellen Zuhörer, der ja dann später mit der Platte genauso umgehen kann: er kann auch zurückkehren, manche Stellen noch einmal hören, er hat die Freiheit zu hören, was er will, so oft wie er will. So wird er im Idealfall selbst zum eigentlichen Adressaten dieser Musik. Und vielleicht ist es auf diese Weise dann doch möglich, dem Triller in op. 111 auf die Spur zu kommen? Vielleicht läßt sich so die Herkunft dieses Trillers herausfinden, diese Allgegenwart des Tones g im Thema heraushören? So etwas könnte im Konzertsaal nie gelingen.

Sind Sie ein passionierter Solist?

Ja und nein. Ich spiele gerne allein und habe auch schon viel Kammermusik mit anderen gespielt. Das Problem dabei ist: jeden Einfall, den ich habe, den betrachte ich als eine Gnade. Im Zusammenspiel mit anderen aber muß ich mich immer ein bißchen vor mir selbst schützen. Denn ich bin mir nicht sicher, ob nicht etwa der Partner oder der Dirigent meinen Einfall als einen Fehler empfindet, und dann kommt es zu einer schlimmen Kollision. Also inszeniere ich mein Spiel und schlüpfe in Verkleidungen: strenge Disziplin oder auch ,Werktreue‘ können solche Kleider sein. Das kann dann ganz fantastisch gut werden. Sehen Sie, auch das ist wieder eine Frage der Extreme: Das eine kann, gerade weil es so völlig gegensätzlich ist, sehr gut in das andere übergehen. Ich bin sicherlich ganz ausgeprägt solistisch orientiert – aber das heißt zugleich, ich habe auch sehr große Lust auf Partnerschaft. Am besten liegt mir die schlichte Liedbegleitung, vorausgesetzt, der Sänger ist eine starke Persönlichkeit. Ich finde es dann reizvoll, mich diesem fremden Willen völlig anzupassen – je fremder er mir ist, um so besser. Da ich mir selber gerne Freiheiten herausnehme, kann ich auch die Freiheit anderer gelten lassen. Es ist ähnlich wie beim Schachspiel: die besten Angreifer haben ja eine große Neigung zum Abwehren. Es gehört zur hohen Angriffskunst, in der Defensive zu bleiben.

Platten mit Anatol Ugorski:

Beethoven: Diabelli-Variationen op. 120 (DG 435615-2), Klavier- Sonate c-moll op. 111, Sechs Bagatellen op. 126, Für Elise WoO 59, Rondo capriccio G-Dur op. 129 (DG 435881-2)

Mussorgsky: Bilder einer Ausstellung

Strawinsky: Trois Mouvements de Petrouchka (DG 435616-2

Weitere Platten mit Werken von Scarlatti, Messiaen, Chopin und Schumann sollen folgen.