„Ein medizinischer Super-GAU“

Die Infizierung durch HIV-verseuchtes Blut hätte verhindert werden können/ Nationale Blutversorgung gefordert/ Anhörung im Deutschen Bundestag  ■ Aus Bonn Myriam Schönecker

Nach Frankreich scheint jetzt auch in der Bundesrepublik ein Blut-Aids-Skandal ans Tageslicht zu kommen. Durch HIV-verseuchtes Blut sind rund 80 Prozent der Bluter-Kranken, das sind ungefähr 2.000 Menschen, infiziert worden. Etwa 400 Bluter sind bisher an Aids gestorben. Opfer der Blutverseuchung sind aber auch mehr als 1.000 „normale“ Menschen, die nach einem Verkehrsunfall oder nach einer Operation mit einem verseuchten Gerinnungspräparat behandelt wurden. Dieser „medizinische Super-GAU“, so Horst Schmidbauer, stellvertretender gesundheitspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, hätte verhindert werden können. Versäumnis Nummer 1: Während für Impfstoffe und Sera eine Hitzesterilisierung zur Abtötung von Viren vorgeschrieben ist, besteht für Blutprodukte bis heute kein Zwang zur Hitzeinaktivierung. Allein die Pasteurisierung bei mindestens 60 Grad Celcius garantiert, daß alle Viren vernichtet werden. Dennoch behandelt das Bundesgesundheitsamt (BGA) bis jetzt alle Inaktivierungsverfahren als gleichwertig. Die Erklärung: Bei der Hitzesterilisierung ist die Ausbeute an verwendbarem Präparat geringer, die Produktion für die Pharmaindustrie teurer. Die flächendeckende Versorgung wäre dann nicht mehr gewährleistet, lautet die Argumentation des BGA.

Versäumnis Nummer 2: 1985 stellte die Pharmaindustrie auf inaktivierte Präparate um. Gleichzeitig wurde der HIV-Antikörper- Test für Spender von Blutplasma eingeführt. Die verseuchten und die durch Sterilisation noch nicht inaktivierten Präparate blieben auf dem Markt. Das Bundesgesundheitsamt wußte davon, blieb aber untätig. Wenn auch das BGA nicht selbständig Arzneimittel zurückrufen kann – diese Kompetenz liegt bei den Landesbehörden –, hätte die Berliner Behörde die Zulassung widerrufen oder deren „Ruhen“ anordnen können. Nichts geschah. Erst im Juli 1987 wurde die Virusinaktivierung für Präparate mit dem Gerinnungsfaktor VIII vorgeschrieben, für andere Blutgerinnungspräparate dagegen erst im Dezember 1991.

Versäumnis Nummer 3: Für Blutprodukte besteht keine echte Chargenkontrolle und -dokumentation. Gerinnungspräparate werden weder vom BGA noch von einem unabhängigen Institut – wie bei Sera und Impfstoffen der Fall – substantiell geprüft. Eine Dokumentation der Chargen würde es möglich machen, alle Empfänger eines verseuchten Präparates ausfindig zu machen. Außerdem könnten Opfer leichter Regreßansprüche durchsetzen.

Die Weigerung des BGA, eine Chargendokumentation durchzusetzen, diene zwar den Interessen der Pharmaindustrie, nicht aber denen des „Verbrauchers“, so Horst Schmidbauer. Der Arzneimittelexperte Ulrich Moebius ist gleicher Ansicht. Vor allem die Ungleichbehandlung bei der Anordnung der Virusinaktivierung läßt Moebius eine ähnliche Interessenlage von BGA und Pharmaindustrie vermuten. In einer Anhörung des Gesundheitsausschusses des Bundestages am Mittwoch forderte der Berliner Pharmakritiker deshalb, die Produktion von Blutplasma „aus der Profitzone herauszuholen“. Das bedeutete auch, Blut- und Blutplasmaspende nicht mehr mit 50 Mark „Aufwandsentschädigung“ zu bezahlen. Vertreter von Industrie und Wissenschaft bezweifelten, daß sich ohne Bezahlung genügend Spender melden würden. Übereinstimmend waren sie der Meinung, daß eine nationale Blutversorgung notwenig sei, um die Aids-Gefahr zu reduzieren. Zur Zeit werden ca. 60 Prozent des benötigten Blutplasmas importiert, in erster Linie aus „Hochrisikoregionen“ wie den USA.