Sie haben keine Lobby - aber Feinde

■ Die sozial Schwächsten geraten immer mehr ins Blickfeld rechter Gewalttäter: Obdachlose werden bedroht, überfallen, verprügelt - totgeschlagen. Doch die Ausgegrenzten haben keine Öffentlichkeit.

Sie haben keine Lobby - aber Feinde

Im Volksmund sind sie die Penner, die Wermutbrüder, das stinkende Pack, der letzte Dreck – Menschenschrott. Braucht man sich nicht drum zu kümmern. Sie leben dort, wo sich der Wohlstandsbürger nur in Alpträumen sieht: an Straßenecken, in Abbruchhäusern, in Bahnhofswinkeln und Läusepensionen. Sie haben keine Lobby, dafür Feinde: Rechtsradikale, die den „undeutschen“, „asozialen Elementen“ nach dem Leben trachten.

Mindestens sechs wohnungslose Menschen wurden 1992 in Deutschland von rechten Gewalttätern ermordet. Bei weiteren vier Todesfällen ist ein rechtsradikaler Hintergrund zu vermuten. Gemessen an der Zahl der „Alleinstehenden ohne Bleibe“ in der BRD – 150.000 schätzte das Institut „Wohnen und Umwelt“ für 1991 – sind sie als Personengruppe unter den Opfern überrepräsentiert. Doch die Öffentlichkeit nimmt dies nicht wahr. Die Ausgegrenzten und Vergessenen werden auch hier wieder ausgegrenzt. Für sie brennt keine Kerze, für sie demonstriert niemand.

Klein ist die Frau und klapperdürr. 70 Jahre. Ihr bißchen Körper wird von einem zu langen, zu schweren Mantel zusammengehalten. Mitte Januar sitzt sie im Seelingtreff, einer Berliner Obdachloseninitiative. Eines ihrer Augen ist blau verschwollen. Doch wer das war, will sie den Betreuern nicht sagen. „Bin uffgeschlagen worden“, murmelt sie nur, „in der U-Bahn, 's waren junge Männer.“ In Wärmestuben und Suppenküchen tauchen die Verletzten auf, mit Spuren von Stiefeln und Fäusten am Körper. „Den ganzen Winter über“, sagt ein Mitarbeiter im Seelingtreff, „war die Furcht vor den Skins ständig Thema unter den Leuten.“

„Bei denen, die Platte machen, irgendwo draußen schlafen, ist die Angst vor der nächsten Nacht flächendeckend“, berichtet Verena Rosenke von der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. (BAG). Die BAG wirft den Politikern vor, einerseits die Wohnungsnot jahrelang ignoriert zu haben, andererseits durch ihr Gerede vom „Sozialhilfemißbrauch“ den Nährboden für Gewalt zu bereiten. Auch das Bundesamt für Verfassungsschutz stellt fest, daß „alle, die anders sind, immer mehr ins Blickfeld der rechten Täter geraten“. Doch wie viele angepöbelt, überfallen und zusammengeprügelt werden, weiß niemand. Verläßliche Zahlen gibt es nirgendwo, die Opfer schweigen. Erst wenn sie totgeschlagen werden, tauchen sie in einer Statistik auf. Ihre Hemmschwelle gegenüber Behörden – von deren Mitarbeitern sie oft genug diskriminiert werden – ist häufig so hoch, daß sie sogar auf die 510 Mark Sozialhilfe verzichten, die ihnen gesetzlich zustehen. Noch viel weniger können sie sich zu einer Anzeige entschließen.

Darüber hinaus haben manche keine Papiere, andere haben sich kleiner Vergehen schuldig gemacht. „Sie wollen nicht zur Polizei und nennen dafür drei Gründe“, erzählt Olaf Franke, ein Berliner Anwalt, der Wohnungslose berät: „Sie sagen: ,Erstens bringt es sowieso nichts, zweitens haben wir Angst, und drittens kriegen wir noch einen Tritt in den Arsch.‘“

9. Januar, ein S-Bahnhof im Berliner Osten, zwei Uhr morgens. Endstation. Zug und Zugführer machen drei Stunden Pause, dann werden sie die Tour wieder aufnehmen. Norbert K., Lars L. und zwei weitere Männer ohne Bleibe haben sich in der Bahn zum Schlafen eingerichtet. Plötzlich wird die Tür aufgerissen. „Heil Hitler“, brüllt es. Vier Männer trampeln in den Waggon. „Zwei davon, ich nenn' sie immer Kugelköppe“, erzählt Norbert K., „haben mich eingekeilt und meinen Kollegen zur Seite gedrängt. Der dritte Kollege, der noch bei uns war, ist gleich stiften gegangen, der vierte hat shake hands mit ihnen gemacht. Mich haben sie mit Faustschlägen bearbeitet, mir mit dem Kopp ins Gesicht gestoßen, meine Tasche ausgeschüttet und mir Geld und die Schuhe geklaut.“

Suche nach dem Schlupfloch an Hitlers Geburtstag

Norbert K. und Lars L. erstatten Anzeige. „Wenn ich 'ne Wohnung hab' und bin wer und hab' auch noch 'ne Arbeit“, sagt Norbert K., „bräucht ich mir das nicht bieten lassen. Aber wir sind praktisch hilflos. Freiwild. Das frißt ganz schön, innerlich.“ Für Sven Bahlmann vom Berliner Betroffenenverein „Unter Druck“ ist die jetzige Situation nur eine Radikalisierung dessen, was die Leute auch sonst erlebten. Die ständige Verachtung, die alltäglichen Gemeinheiten, mit denen sie leben müßten, hätten vielen den Stolz gebrochen. Wehren würden sie sich kaum noch.

In Berlin leben nach Angaben des Sozialsenats 10.000 Menschen ohne Obdach in Notunterkünften. Doch es gibt mindestens 15.000, vielleicht sogar 20.000 weitere, die ihre Randexistenz auf der Straße fristen, schätzen die Wohlfahrtsverbände. „Überlebenstraining ist ihr Beruf“, stellt Herrmann Pfahler von der Beratungsstelle des Diakonischen Werks und der Caritas fest. Sie hangeln sich von Suppenküche zur Wärmestube, von der S-Bahn zur Bahnhofsmission. Mal jobben sie, mal betteln sie, mal sammeln sie Schrott oder „ziehen Flaschen“ aus den Glascontainern.

Pfahler: „Sie müssen ständig überlegen, wie sie am besten durchkommen können – möglichst ohne anzuecken.“ Am 20. April, Hitlers Geburtstag, versuchten alle, ein Schlupfloch zu finden. Viele seien ja nicht auf den ersten Blick als wohnungslos zu identifizieren, aber die Rechten bekämen einen Riecher dafür. Den Skins gingen die Obdachlosen aus dem Weg, wo sie nur könnten. Andere Verhaltensstrategien gäbe es kaum, Selbsthilfegruppen gegen Gewalt schon gar nicht. „Wohnungslose sind große Individualisten. Außerdem kann man für sich keine Lobby machen, wenn man der letzte Arsch ist.“ Die Wohlfahrtsverbände fordern Wohnraum für die Ausgestoßenen, einen sicheren Platz zum Schlafen. Mit Appellen und Aktionen versuchen sie, die Öffentlichkeit für die Not der Wohnungslosen zu sensibilisieren.

Doch weder bei der Polizei noch bei den Wachmannschaften der S- und U-Bahnen scheinen sie damit Erfolg zu haben. Die nehmen die verstärkte Bedrohung von Obdachlosen einfach nicht wahr. „Solche Erkenntnisse liegen uns nicht vor“, kommt vom Sprecher der Berliner Bahnpolizei, „normale Straßenkriminalität, die wir im Rahmen allgemeiner Streifentätigkeit beobachten“, sagt die Polizei.

Velten, im Kreis Oranienburg, Anfang Dezember. Bernd D., alleinstehend und arbeitslos, liegt im Bett und schläft. „Los Alter, laß das Licht aus. Kohle raus“, knurrt ihm jemand ins Ohr. Drei junge Männer sind in seine Wohnung eingebrochen. Mit einem Samuraischwert schlagen sie auf den Liegenden ein, verwunden ihn am Bauch, brechen ihm den Arm, treten ihm ins Gesicht. Geld finden sie nicht. Sie wollen ein andermal wiederkommen. Bernd D. liegt drei Wochen im Krankenhaus.

In der Zwischenzeit nimmt die Polizei die Täter fest, sie gestehen. „Sie sind sicherlich der rechten Szene zuzuordnen“, sagt Staatsanwalt Dieter Berthold, und wären schon öfter wegen Gewalt an sozial Schwachen aufgefallen. Jetzt wird ihnen räuberische Erpressung und schwere Körperverletzung zur Last gelegt. Doch bei zweien wird der Haftbefehl ausgesetzt, sie kommen auf freien Fuß. Als Bernd D. das Krankenhaus verläßt, ist seine Wohnung kurz und klein geschlagen, seine Einrichtung geklaut. Er hat keine Bleibe mehr, die Rechten haben ihn obdachlos geprügelt. „Ich kann doch da nicht bleiben“, meint der 50jährige Arbeiter, „wenn die mich finden, schlagen die mir doch den Schädel ein.“ Er pennt erst bei Bekannten, dann am Bahnhof, dann kommt er in Berlin in einem Notasyl unter. Er ist deprimiert und hilflos, „das ist doch kein Leben.“