„Unverantwortlicher Sturzflug“

■ Interview mit Wilhelm Adamy vom DGB-Bundesvorstand

taz: Wir haben jetzt über 3,4 Millionen Arbeitslose ohne große Aussicht, daß diese Zahlen in naher Zukunft sinken werden. Was ist das Gebot der Stunde?

Wilhelm Adamy: Im Osten gilt es vordringlich, die Industriestandorte und ihre Reste zu sichern sowie die öffentliche Infrastruktur auszubauen. Zusätzlich muß die aktive Arbeitsmarktpolitik ausgebaut werden. Die Bundesregierung hat diese Maßnahmen in unverantwortlicher Weise zusammengestrichen. Das ist eine arbeitsmarktpolitische Sturzflugpolitik.

Eine erweiterte Arbeitsmarktpolitik oder die Erhaltung von Industriestandorten scheint aber an die finanziellen Grenzen des Machbaren zu stoßen.

Die Schwierigkeiten der Finanzierung sind durch den Osten größer geworden, aber das finanziell Machbare ist noch lange nicht erreicht. Wenn wir Personengruppen einbeziehen, die bislang keine Beiträge zur Arbeitslosenversicherung leisten, können wir Milliardenbeträge zusätzlich für arbeitsmarktpolitische Aufgaben freischaufeln. Genauso notwendig ist es, eine Ergänzungsabgabe einzuführen. Es ist hinlänglich bekannt, daß gesamtgesellschaftlich die Finanzierung von Arbeit kaum teurer ist als die Finanzierung von Arbeitslosigkeit.

Im Westen scheint sich die Arbeitslosenzahl derzeit bei über zwei Millionen zu stabilisieren. In der Automobil-, der Stahl- und der Chemiebranche steht ein großer Arbeitsplatzabbau an. Wo sehen Sie die Potentiale, die dies kompensieren könnten?

Die arbeitsmarktpolitischen Möglichkeiten sind natürlich begrenzt. Wir müssen in erster Linie mit neuen wirtschaftspolitischen Instrumenten arbeiten und gleichfalls versuchen, die Effektivität und die Abstimmung der einzelnen Instrumente zu verbessern, beispielsweise zwischen regionaler Wirtschaftsförderung und Arbeitsmarktpolitik. Das Schubladendenken der einzelnen Politikbereiche muß ein Ende haben.

Kann es in Zukunft überhaupt noch Vollbeschäftigung geben?

Wenn der ernste politische Wille besteht, das Ziel der Vollbeschäftigung auch tatsächlich zu realisieren, dann ja. Nur ist es so, daß das Ziel der Vollbeschäftigung heute für viele nur noch ein Lippenbekenntnis ist. Arbeitsmarktpolitik ist aber durchaus erfolgreich, das war nicht nur Anfang der 70er Jahre so. Die Instrumente müßten allerdings viel genauer ausgerichtet werden. Es geht darum, eine aktive, vorbeugende Arbeitsmarktpolitik auszubauen. Dabei muß man Kurzarbeit mehr mit Qualifizierung verbinden oder Betriebe stärker dazu anhalten, auch ungelernte Arbeitskräfte in eine betriebliche Qualifizierungspolitik miteinzubeziehen, damit sie nicht die ersten sind, die wieder rausfliegen. Insgesamt steht aber die Arbeitsmarktpolitik in der Gefahr, überfordert zu werden, denn sie kann auch nur Brückenfunktionen wahrnehmen. Deshalb müssen wir uns Gedanken machen, wie sie stärker auf die sich verändernden Beschäftigungsprobleme ausgerichtet werden kann, also inwieweit Beschäftigungsgesellschaften in Ost und West gezielt gefördert werden oder wie wir stärker regionale Handlungsspielräume eröffnen. Momentan versucht man genau das Gegenteil. Interview: Bernd Siegler