: Nicht das einzige Beispiel
Bonn und die „Fatwa“: Eine Bestandsaufnahme zum vierten Jahrestag der Morddrohung gegen Salman Rushdie ■ Von Thierry Chervel
Den einen Gefallen hat Salman Rushdie der internationalen Politik nicht getan: Vier Jahre nach Khomeinis Morddrohung ist er immer noch am Leben. Wieviele Staatsmänner wären nicht klammheimlich erleichtert, wenn dieses Problem endlich aus der Welt wäre! Sicher, es gäbe Empörung, Sanktionen gar, aber nach fünf Wochen könnte man die Kontakte wieder aufnehmen und ungestört an einer weiteren Verbesserung der „traditionell guten“ Beziehungen zum Iran arbeiten. Denn fünf Wochen – das ist bei Rushdie die Frist: Fünf Wochen dauerte es, dann durften die EG-Länder ihre nach der „Fatwa“ vom 14.Februar 1989 abgezogenen Botschafter wieder in den Iran zurückschicken. Seitdem reagieren Politiker verlegen, wenn sie auf den „Fall Rushdie“ angesprochen werden. Am liebsten äußern sie sich eigentlich gar nicht, so wie Außenminister Kinkel, der ein bereits der Zeit gewährtes Interview zum vierten Jahrestag lieber zurückzog.
Vor zehn Tagen erst bestätigte der iranische Staatspräsident Ali Akbar Rafsandschani die „Fatwa“ ein weiteres Mal. Sie sei unwiderruflich: Nur Khomeini selbst, so Rafsandschani, hätte sie zurückziehen können. Bonn schweigt. Die britische Times verband die Meldung mit Berichten über „Unmut“ im britischen diplomatischen Korps: Rushdie habe die Empörung im Iran neu geweckt, seit er sich wieder verstärkt an internationale Medien und Politiker wende. Vorher sei sein Fall doch fast vergessen gewesen.
Überhaupt ging die britische Regierung auf dem Weg des Vergessens und der Lippenbekenntnisse stets mit gutem Beispiel voran. Nach der „Fatwa“ wurden Margaret Thatcher und ihr Außenminister Sir Geoffrey Howe nicht müde, sich von dem Autor zu distanzieren. „Wir verstehen, daß das Buch den Menschen moslemischen Glaubens beleidigend erscheint“, sagte Howe am 2.März 1989 im BBC World Service, „es ist noch in anderer Hinsicht beleidigend. Die britische Regierung, das britische Volk haben keine Sympathie für das Buch. Es vergleicht Großbritannien mit Hitlerdeutschland.“ Auch „Mrs. Torture“ („Satanische Verse“) fand das Buch „beleidigend“. Ähnliche Töne waren noch jüngst aus Deutschland zu hören. Die „Satanischen Verse“ seien wegen Verletzung religiöser Gefühle „zum Teil ausgesprochen schlechte Literatur“, sagte im November der FDP-Bundestagsabgeordnete Burkhard Hirsch, „ebenso“ verurteilungswürdig sei der iranische Mordaufruf. Den Gipfel erreichte die offizielle Desolidarisierung in Großbritannien vor knapp einem Jahr. Ein Regierungsbeamter teilte Rushdie mit, daß seine Bewachung nun bald eingestellt werde. „Viele Menschen leben in Großbritannien in Lebensgefahr“, so der Beamte zu Rushdie. Erst nach Protesten garantierte man Rushdie, daß der Personenschutz, zu dem der Autor aus seiner Privatkasse hunderttausend Pfund jährlich beisteuert, aufrechterhalten wird.
Reisediplomatie in eigener Sache
Aus Rücksicht auf die britischen Geiseln, die sich in der Hand proiranischer libanesischer Terroristengruppen befanden, mußte Rushdie zur Politik der westlichen Regierungen lange Zeit schweigen. Erst nach der Freilassung der Geiseln Ende 1991 konnte er sich wieder freier äußern. Seitdem betreibt er eine Art Reisediplomatie in eigener Sache. Unter massiven Sicherheitsvorkehrungen flog er in die USA, nach Dänemark, Finnland, Schweden, Norwegen, Spanien, Deutschland, Kanada und zuletzt am 16. und 17.Januar nach Irland. Durch seine plötzlichen Auftritte versuchte er die Politiker daran zu erinnern, daß es da noch einen Stolperstein in den Beziehungen ihrer Länder zum Iran gibt. Die Kampagne hatte einigen Erfolg: In Kanada wurde ein Kredit an den Iran storniert, in Norwegen eine Ölbestellung. Einige Länder erklärten sich bereit, wegen des Falls Rushdie den internationalen Gerichtshof in Den Haag anzurufen. Die meisten Länder versprachen Unterstützung bei UNO- und EG-Resolutionen. Zuletzt wurde sogar die britische Regierung aufmerksam: Am letzten Donnerstag wurde Rushdie zum ersten Mal im Foreign Office empfangen.
Rushdie resümiert seine Reisen in seinem Artikel „14.Februar 1993“, den er für die Sunday Times geschrieben hat und der auf deutsch in der Zeit erscheinen wird. Über seinen Bonn-Besuch im Oktober letzten Jahres äußert er sich darin zufrieden – der Besuch hatte tatsächlich Konsequenzen. Auf Antrag des SPD- Abgeordneten Norbert Gansel fand am 9.Dezember eine Debatte des Bundestags über die „Fatwa“ statt. In der daraus folgenden Entschließung werden dem Iran politische und wirtschaftliche Sanktionen angedroht, falls der Mordaufruf gegen Rushdie in die Tat umgesetzt wird.
Im Dezember fiel im Auswärtigen Amt außerdem die Entscheidung, die geplante Unterzeichnung des deutsch-iranischen Kulturabkommens nicht mehr länger zu betreiben. Außenminister Klaus Kinkel erläuterte diesen Schritt in einem Brief an den hessischen Ministerpräsidenten Hans Eichel vom 18.Dezember: „Die Gründe für eine vertragliche Absicherung des Kulturaustauschs mit dem Iran, die zum Abschluß eines Kulturabkommens im Interesse beider Partner führten, sind im Prinzip weiterhin gültig. Allerdings besorgt auch mich die iranische Haltung zu der Fatwa Khomeinis gegen den Schriftsteller Rushdie und zur Beachtung der Menschenrechte allgemein.“ An Eichel schrieb Kinkel den Brief, weil Hessen zu den Bundesländern gehört, die eine Unterschrift unter das Abkommen verweigern. Bedeutet Kinkels Schritt, daß die Bundesregierung ihre Haltung zum „Fall Rushdie“ verändert hat?
Das Kulturabkommen
Um das Kulturabkommen hatte sich Bonn wirklich bemüht: Nachdem die Kulturbeziehungen 1986 vom Iran wegen einer Khomeini- Satire im deutschen Fernsehen aufgekündigt worden waren, wurde schon 1988 ein neuer Vertrag ausgehandelt, der nun an der Morddrohung gegen Rushdie vom 14.Februar 1989 scheiterte. 1991 wurden die Verhandlungen wieder aufgenommen, im Dezember war ein neuer Vertrag formuliert. Nun ist er also auf Eis gelegt.
Auslöser von Kinkels Entscheidung sollen die Äußerungen des iranischen Botschafters in Bonn, Seyed Hossein Mousavian, am letzten Tag von Rushdies Deutschland-Besuch gewesen sein. Mousavian hatte im Interview mit dem Saarländischen Rundfunk die „Fatwa“ verteidigt: „Kein Land und kein Moslem könnte oder wollte eine Strafe des Islam ändern“, stellte er fest und fügte mit Anspielung auf die deutsch-iranischen Wirtschaftsbeziehungen hinzu, daß „Deutschland niemals gegen sein Interesse handeln (würde), nur wegen Salman Rushdie“. Zugleich verlautete aus Teheran, die religiöse „Stiftung 15. Khordad“ habe das Kopfgeld auf Rushdie nochmals erhöht. Eine konkrete Summe wurde nicht genannt, es war von zwei Millionen Dollar die Rede.
Ob Mousavians Äußerungen tatsächlich der Grund für Kinkels Schwenk waren, wird bei näherer Betrachtung der Bonner Politik gegenüber Rushdie allerdings fraglich – es würde bedeuten, daß Bonn etwas zum Kriterium für das Kulturabkommen macht, das vorher keines war. Denn der Iran hat seine Position zu Rushdie keineswegs verändert, Mousavians Radiointerview stellt keine neue Qualität dar, wie mehrere Meldungen allein aus dem letzten Jahr zeigen:
–Am 17.Juni meldete die iranische Nachrichtenagentur IRNA, daß die „Stiftung 15. Khordad“ das Kopfgeld auf Rushdie erhöht habe. Sie habe sich jetzt bereitgefunden, neben dem Kopfgeld „auch die Kosten zu übernehmen, die durch eine Exekution des gebannten Autors entstehen“ – eine deutliche Aufforderung an Söldnergruppen, auch eventuelle Spesen geltend zu machen. Die Kopfgelderhöhung nach Rushdies Bonn-Besuch war also bereits die zweite im Jahr 1992.
–Am 30.Juni meldete der iranische Rundfunksender „Stimme der Islamischen Republik Iran“, daß das iranische Parlament, der Majlis, mit 170 von 270 Stimmen eine Resolution verabschiedet hat, in der die „Fatwa“ erneuert wird: „Wir, die Abgeordneten des Majlis, erklären hiermit in Übereinstimmung mit den wegweisenden Anschauungen des erhabenen Führers, Seine Exzellenz Ayatollah Khameini, daß die Fatwa des Imams (Khomeini) über die Abtrünnigkeit des Salman Rushdie weiterhin gültig bleibt und daß alle Moslems und alle Hisbollah-Kräfte der Welt verpflichtet sind, sie auszuführen.“ Das Parlament war im April neu gewählt worden, die „gemäßigten“ Parteigänger Rafsandschanis hatten zwei Drittel der 270 Sitze errungen.
–Am 24.Juli machte das britische Innenministerium Mitteilung von der Ausweisung zweier Angestellter der iranischen Botschaft und eines Studenten „aus Gründen der Sicherheit“. Die beiden Botschaftsangestellten, Mehdi Sayed Sadehi und Mahmud Hedhi Soltani, sollen konkrete Vorbereitungen für ein Attentat auf Rushdie getroffen haben.
–Auch Botschafter Mousavian hat sich im letzten Jahr nicht zum ersten Mal über die „Fatwa“ geäußert. Schon im Oktober 1991, bei der von Thyssen finanzierten iranischen Kulturwoche in Düsseldorf, hatte er sie in einer Podiumsdiskussion verteidigt.
Unverzagt hielt das Auswärtige Amt an seiner Haltung fest. Noch am letzten Tag des Rushdie-Besuchs bestätigte ein Sprecher, daß ein Rückzug der Morddrohung gegen Rushdie keine Vorbedingung für das Kulturabkommen sei. Die Tatsache, daß sich die „Fatwa“ ausdrücklich auch auf die Verleger, Herausgeber und Übersetzer der „Satanischen Verse“ erstreckt, also auch auf deutsche Staatsbürger, schien ebenfalls keinen Eingang in die Erwägungen des Amtes gefunden zu haben. Drei Tote hat die „Fatwa“ bisher gekostet: Am 29.März 1989 wurden der in Brüssel lebende saudische Imam einer Moschee, Abdullah Muhammad al-Ahdal, und ein tunesischer Buchhändler erschossen, der zufällig in seiner Nähe stand. Der Geistliche hatte sich im belgischen Fernsehen kritisch über Khomeinis „Fatwa“ geäußert. Am 11.Juli 1991 wurde Hitoshi Igarashi, Rushdies japanischer Übersetzer, erstochen. Acht Tage zuvor war Ettore Capriolo, Rushdies italienischer Übersetzer schwer verletzt worden. Zwei Monate später ließ die Frankfurter Buchmesse auf Drängen des Auswärtigen Amtes wieder iranische Verlage zu – die Entscheidung wurde erst nach Protesten zurückgenommen.
Nach dem Tod Khomeinis im Juni 1989 setzte Bonn auf die „neuen Kräfte“ im Iran und mochte auf ein Randproblem wie Rushdie keine Rücksicht mehr nehmen. Staatspräsident Rafsandschani und der Nachfolger Khomeinis als geistlicher Führer, Ayatollah Seyed Ali Khameini, galten als „Gemäßigte“. Auch hatten sich die geopolitischen Gewichte in der Nahost-Region verschoben. Der neue Hitler hieß nun Saddam Hussein, der Iran profitierte vom Ölboom, der durch den zweiten Golfkrieg ausgelöst wurde. Dieser Geldregen ermöglichte Rafsandschani die „Öffnung“ zum Westen, er verbesserte zumal die Beziehungen zu Deutschland, dem wichtigsten Handelspartner des Iran. 1989 exportierte die deutsche Wirtschaft noch Waren für 2,6 Milliarden Mark in die Islamische Republik, 1992 waren es nach Schätzungen der Deutsch-Iranischen Handelskammer in Hamburg acht Milliarden.
Das geplante Kulturabkommen war ein kleiner Baustein in der Verbesserung der „traditionell guten“ Beziehungen zum Iran. Eigentlich fehlte nur noch die Zustimmung einiger Bundesländer – ohne die wegen der Kulturhoheit der Länder ein Kulturabkommen nicht verabschiedet werden kann –, dann wäre die Sache perfekt gewesen. Neben Hessen weigerten sich Bayern, Bremen, Hamburg und Niedersachsen. Hätten die Länder zugestimmt, wäre das Abkommen längst unter Dach und Fach. So begrüßenswert der jetzt beschlossene Aufschub ist: Eine substantielle Änderung der Bonner Politik gegenüber Rushdie läßt sich daraus noch nicht ablesen.
Die Gemäßigten und die Menschenrechte
Besonders realistisch war die Hoffnung der Bundesregierung auf eine Liberalisierung des Iraner Regimes nie. Zwar wird weder von deutschen Iran-Experten noch von oppositionellen Exiliranern bestritten, daß Staatspräsident Rafsandschani und der geistliche Führer Ayatollah Khameini eine pragmatischere Politik führen als Khomeini. Die Frage ist allerdings, welchen Charakter diese Öffnung hat. „Wir haben immer vor dem Kurzschluß gewarnt, daß man von gewissen unübersehbaren außenpolitischen und außenwirtschaftlichen Öffnungstendenzen auf eine innenpolitische Liberalisierung schließen könne“, sagt der amnesty-Mitarbeiter Heiner Bielefeldt. Rafsandschani handelt aus der Not. Der Iran muß nach den Verwüstungen des ersten Golfkriegs wieder aufgebaut werden. Dafür braucht Rafsandschani westliche Technologie und Kapital. Das Land ist zudem wegen seines exorbitanten Bevölkerungswachstums von 3,5 Prozent kaum noch zu ernähren und verwalten. Jede iranische Frau bringt nach den stets etwas absurd klingenden statistischen Durchschnittszahlen viereinhalb Kinder zur Welt. Trotz der 500.000 bis eine Million Gefallenen des ersten Golfkriegs und der vier Millionen Iraner, die das Land seit 1979 verlassen haben sollen, ist die Bevölkerung von vierzig Millionen am Ende der Schah-Zeit auf knapp sechzig Millionen heute angestiegen. Die Slums von Teheran wuchern mehr denn je, die Einwohnerzahl der Stadt wird inzwischen auf zwölf Millionen geschätzt. In mehreren Städten kam es 1991 und 1992 wegen der anhaltend schlechten Versorgungslage zu sozialen Unruhen. Die Revolten wurden niedergeschlagen, Rädelsführer hingerichtet.
Zaghafte Ansätze zu einer inneren Liberalisierung gehen laut amnesty immer nur auf Einzelinitiativen iranischer Politiker zurück und finden keinen Niederschlag in der Gesetzgebung. Also sind sie auch jederzeit rücknehmbar. Einerseits wird eine größere Pressefreiheit versprochen, andererseits werden Journalisten festgenommen und ins Gefängnis gesteckt. Kritischen Äußerungen einzelner Politiker zur Kleiderordnung für Frauen stehen rabiate Tugendkampagnen der Fundamentalisten gegenüber.
Nach wie vor ist die Islamische Republik Iran eines der mörderischsten Regimes der Welt. Zwölftausend Hinrichtungen zählte amnesty seit Gründung der Republik im Jahre 1979 bis 1991, davon entfallen mindestens 2.500 auf die Zeit nach Khomeinis Tod – wahrscheinlich mehr, denn die Zahlen fürs letzte Jahr liegen noch nicht vor. Es heißt aber, daß 1992 mindestens 140 Regimegegner hingerichtet wurden. Dies sind vorsichtige Schätzungen. Gebetsmühlenhaft wiederholt sich in den amnesty-Jahresberichten die Formel, daß „die tatsächlichen Zahlen weitaus höher liegen“ dürften. Gerade die Hinrichtungen politischer Gefangener werden im Iran oft nicht bekannt gegeben. Weiterhin wird in den Gefängnissen entgegen den Bestimmungen der iranischen Verfassung gefoltert.
Auch die Attentate auf Exiliraner werden fortgesetzt. Zuletzt traf es Sadegh Charafkandi, den Generalsekretär der Kurdischen Demokratischen Partei des Iran, und drei Begleiter am 17. September 1992 im Berliner Restaurant „Mykonos“. Stern und Focus haben in diesem Fall recherchiert: Ähnlich wie beim Attentat auf den letzten Ministerpräsidenten des Schahs, Schapur Bakhtiar, in Paris im letzten August und den meisten anderen Attentaten auf exiliranische Oppositionelle gibt es auch hier deutliche Hinweise auf die Beteiligung iranischer Botschaftsangehöriger an den Morden. „Die Bundesregierung schenkt der Erklärung des iranischen Staatspräsidenten Rafsandschani Glauben, daß Iran dem Völkerrecht verpflichtet ist“, antwortet das Auswärtige Amt auf Nachfrage.
Ein falscher Unterschied
Die „Fatwa“ gegen Rushdie ist nicht das einzige Beispiel, und Bonn steht nicht allein da: Wirtschaftsinteressen, lange Zeit auch die Rücksicht auf die Geiseln und – im Fall der USA – die Verstrickung von Repräsentanten der Reagan/Bush-Ära in die Iran-Contra-Affäre sind die Gründe für die Zurückhaltung westlicher Regierungen gegenüber dem Teheraner Regime.
Im speziellen Fall der „Fatwa“ gegen Rushdie kleidet die Bundesregierung ihre Passivität gern in die Behauptung eines Unterschieds zwischen Regierung und Geistlichkeit des Iran. Die Regierung distanziere sich von der „Fatwa“, so gut sie könne, die Geistlichkeit betreibe sie. Dieses Argument ist schon deshalb hinfällig, weil sich der Iran ausdrücklich als „Islamische Republik“ definiert, eine Trennung von Staat und Religion, Regierung und Geistlichkeit gibt es nicht. Chomeini war, als er die „Fatwa“ erließ, Staatsoberhaupt, selbst wenn er sich aus der Tagespolitik zurückgezogen hatte. Einer seiner Hauptlehrsätze heißt: „Der Islam ist Politik.“ Von einer Säkularisierung des Systems nach Khomeinis Tod kann keine Rede sein. Auch der Pragmatiker Rafsandschani ist ein Mullah, Khomeini- Schüler der frühen Jahre – unter Khomeini gelangte er in den geistlichen Rang eines Hojatoleslam. Ayatollah Khameini ernennt als religiöser Führer die geistlichen Vertreter im Islamischen Wächterrat, der Regierung und Gesetzgebung darauf kontrolliert, ob sie religiösen Prinzipien gehorchen. Dieser Wächterrat hat eine absolute Blockademacht bei allen gesetzgeberischen Initiativen von Parlament und Regierung.
Das islamische Strafrecht wurde bei seinem Erlaß, 1982, zwar auf fünf Jahre befristet, ist bisher aber nicht außer Kraft gesetzt worden. „Wird jemand getötet, weil er den Propheten oder seine Nachfolger beleidigt hat, dann darf der Täter nicht bestraft werden“, lautet einer seiner Paragraphen. Straftatbestände wie „auf Erden korrupt sein“ oder „ein Feind Gottes sein“ werden vornehmlich auf politische Gegner angewendet.
Religiöse Stiftungen wie die „Stiftung der Märtyrer“ oder die „Stiftung der Muztazefin“ (der „Barfüßigen“, also der Armen) und eben auch die „Stiftung 15. Khordad“ übernehmen Aufgaben, die im westlichen Verständnis als staatliche Aufgaben gelten würden. Die „Stiftung der Märtyrer“ etwa versorgt Witwen und Waisen gefallener Soldaten mit Renten. Diese nach der Revolution gegründeten Stiftungen arbeiten eng mit staatlichen Stellen zusammen. Ohne Khomeinis Einwilligung hätten sie nicht entstehen können. Nominell galt Khomeini darum bei der Gründung der meisten dieser Stiftungen als ihr Vorsitzender – eine Art Schirmherrschaft.
Die Stiftung 15. Khordad gehört nicht zu den großen Stiftungen. Auch im Iran scheint sie einer breiteren Öffentlichkeit erst durch die Auslobung des Kopfgeldes auf Rushdie bekannt geworden zu sein. Der Name der Stiftung bezieht sich auf den 15. Khordad 1342 des persischen Kalenders, also den 5. Juni 1963 unserer Zeitrechnung. An diesem Tag fanden Massenkundgebungen gegen die vom Schah ins Leben gerufene „Weiße Revolution“ statt. Khomeini hielt eine der wütendsten Reden, die je gegen den Operettenkaiser geführt wurden. Der Aufstand wurde blutig niedergeschlagen, Khomeini bald darauf des Landes verwiesen.
Der Leiter der Stiftung, Hojatoleslam Hassan Sanei, ist kein Unbekannter. Er gehört zu den Geistlichen, die unter Khomeini hohe staatliche Ämter bekleideten. In der Mitte der achtziger Jahre war er drei Jahre lang Generalstaatsanwalt von Teheran. Die am 15. Februar 1989 von ihm ausgesetzte Kopfgeldsumme lautete ursprünglich auf eine Million Dollar für Nicht-Moslems und drei Millionen Dollar für Moslems, letztere Summe war aber in Rial zum offiziellen Umtauschkurs angegeben. Zum realistischeren Schwarzmarktkurs entsprach sie 170.000 Dollar. Vielleicht erklärt sich aus dem weiteren Kursverfall des Rial seit 1989, daß trotz aller „Erhöhungen“ des Kopfgeldes in den letzten Jahren die Endsumme zwei – statt der ursprünglich drei – Millionen Dollar nie übersteigt. Sanei konnte das Kopfgeld nicht ohne Khomeinis Zustimmung aussetzen. Es muß als staatlich sanktioniert gelten.
Die Bestätigungen der „Fatwa“: zwiespältig
Das Bonner Argument, die Regierung des Iran distanziere sich von der „Fatwa“, während die Geistlichkeit daran festhalte, ist noch in anderer Hinsicht fragwürdig. Bei genauerer Betrachtung der Äußerungen iranischer Offizieller zur „Fatwa“ erweist sich nämlich eine gewisse Zwiespältigkeit. Die virtuoseste Formel fand Rafsandschani selbst am 24. Februar 1989: „Jeder Moslem ist aufgerufen, seine Pflicht (in bezug auf Rushdie und seine Verleger) zu erfüllen. Das hat mit der Islamischen Republik nichts zu tun.“
Es fällt auf, daß die Äußerungen zur „Fatwa“ praktisch nie eine direkte Handlungsaufforderung enthalten, sondern gewissermaßen nur die Existenz der „Fatwa“ als etwas „objektiv Gegebenes“ bestätigen, das außerhalb der Einflußmöglichkeiten des Sprechers liegt.
Ähnlich ist die Tendenz der Äußerung Khameinis vom 22. Februar 1989: „Ein Pfeil wurde abgeschossen und ist nun auf dem Weg in sein Ziel.“ Diese Äußerungen haben immer zwei Adressen: Was den Fundamentalisten, und übrigens auch der dortigen und hiesigen Öffentlichkeit, als Bestätigung erscheint – „Rushdie muß sterben, das ist eine unverrückbare Tatsache“ –, kommt bei den einschlägig interessierten westlichen Regierungen als „Distanzierung“ an: „Ich möchte schon, aber gegen die „Fatwa“ kann ich beim besten Willen nichts machen.“ Allzugern begnügte sich die Bundesregierung bisher mit dem bloßen Sprachgestus von Distanzierung, ohne den Finger auf den inhaltlichen Widerspruch zu legen: Wie verhält sich denn eine „Islamische Republik“ zur „Pflicht eines jeden Moslems“?
Damit wird den Fundamentalisten geradezu in die Hand gearbeitet: Die „Fatwa“ steht als unwiderruflich da. So akzeptieren westliche Regierungen implizit den totalitären Ehrgeiz der Khomeinisten, für „eine Milliarde Moslems“ (so Mousavian) zu sprechen – eine Vorstellung, bei der mindestens 900 Millionen Moslems ein kalter Schauder über den Rücken laufen dürfte. Und sie akzeptieren den Preis, den die „gemäßigten Kräfte“ für die Öffnung zum Westen anscheinend zahlen müssen: Aufrechterhaltung der „Fatwa“ gegen Kredite und Importe.
Ist die „Fatwa“ der Preis für eine Öffnung?
Genau hier ist die Verquickung zwischen staatlichen und religiösen, „gemäßigten“ und fundamentalistischen Interessen am engsten: Führt die wirtschaftliche Öffnungspolitik Rafsandschanis zu einer Verschlimmerung von Rushdies Situation? Die Aufnahme von Krediten zur Finanzierung von Importen ist im Iran religiös nämlich ebenfalls umstritten. Zinsnehmen und -geben gelten als unislamisch (Koran 2, 275). Jedem Kredit, den Rafsandschani aufnehmen will, müssen Parlament und Wächterrat darum zustimmen. Und nach Ansicht westlicher Wirtschaftsleute und des IWF muß Rafsandschani Kredite aufnehmen, um die Liquidität des Landes zu erhöhen. Im Moment liegt das wirtschaftliche Interesse des Westens gegenüber dem Iran nicht mehr so sehr in den Exporten selbst – der Boom wird nach Ansicht von Fachleuten zurückgehen –, sondern darin, daß bereits gelieferte Güter bezahlt werden.
Der Iran ist in Zahlungsrückstand geraten, und die deutschen Steuerzahler haben für die Exporte per Hermes-Exportkreditversicherung in Milliardenhöhe gebürgt. Zwar ist die Lage nicht dramatisch, aber neue Kredite würden helfen. Der Gedanke liegt nahe, daß Rafsandschani die Fundamentalisten mit Konzessionen wie der Bestätigung der „Fatwa“ günstig stimmen will. Eine ähnlich symbolische Kraft wie die „Fatwa“ nach außen übt innenpolitisch allein das Festhalten an der Kleiderordnung für Frauen aus. An genau diesen beiden Punkten verschärften sich nach dem Wahlsieg der „Gemäßigten“ Töne und Taten.
Der Kern der rechtlichen Frage
Die häufige Bestätigung der „Fatwa“ gegen Rushdie hat für die Fundamentalisten eine wichtige Funktion: Mit der „Fatwa“ wird symbolisch sozusagen Ayatollah Khomeini selbst am Leben gehalten. Denn an sich gilt eine „Fatwa“ nach schiitischer Lehre mit dem Tod des Rechtsgelehrten, der sie ausgeprochen hat, als erloschen. „Nur der lebende Modschtahed (Rechtsgelehrte) hat recht“, lautet ein schiitischer Lehrsatz. In frappantem Widerspruch zu dieser Tradition stehen Äußerungen wie die Rafsandschanis vom Sonntag letzter Woche: Es handle sich bei der „Fatwa“ um den islamischen Urteilsspruch einer religiösen Autorität, der nur von dieser Autorität aufgehoben werden könne. Der Westen übe in dieser Angelegenheit Druck aus, ohne dem Kern der rechtlichen Frage Aufmerksamkeit zu schenken.
Keine „Fatwa“ ist unwiderruflich. „Eine „Fatwa““, erläutert der Bonner Islamwissenschaftler Stefan Wild, „ist ein Rechtsgutachten, das von einem dazu qualifizierten Rechtsgelehrten ergeht. Das wichtige an einer „Fatwa“ ist, daß sie auf eine konkrete Frage antwortet. Das normale Ende einer „Fatwa“ lautet ,Und Gott weiß es am besten‘.“ War ein Gläubiger mit dem Rechtsgutachten eines Gelehrten, der Antwort auf seine Frage, nicht zufrieden, so konnte er sich durchaus an einen zweiten Gelehrten wenden und dessen „Fatwa“ als verbindlich betrachten.
Daß es keinen Gedanken der Unfehlbarkeit gibt, hängt unter anderem mit der schiitischen Lehre von der Wiederkunft des zwölften Imams zusammen.
Anders als die Sunniten glauben die Schiiten an eine Linie von zwölf Nachfolgern des Propheten. Der zwölfte Imam, der „erwartete Mahdi“, wurde Ende des 9. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung noch in seiner Kindheit auf geheimnisvolle Weise entrückt und lebt nach schiitischer Lehre durch ein göttliches Wunder bis heute in der Verborgenheit. Erst der Mahdi, so die Lehre, kann durch seine Wiederkunft ein Gottesreich auf Erden errichten. Alles Regime, die dem vorausgehen, tragen das Stigma der Zeitlichkeit.
Darum ist die Frage, ob es eine „Islamische Republik“ vor der Wiederkunft des Mahdi geben kann, in der schiitischen Geistlichkeit durchaus strittig. Khomeini konnte seine Position nur erreichen, indem er konkurrierenden Ayatollahs wie Mohammed Kazem Schariatmadari die geistliche Autorität aberkannte – wofür es an sich in der schiitischen Tradition ebenfalls keine Handhabe gibt. Aber auch die heutige iranische Verfassung kennt in der Präambel einen Paragraphen, der die „Islamische Republik“ unter den Vorbehalt einer Wiederkunft des zwölften Imams stellt.
Ein Widerruf der „Fatwa“ ist also denkbar – wenn auch politisch nicht wahrscheinlich. Ayatollah Khameini hätte als „lebender Modschtahed“ und Nachfolger Khomeinis formell die Autorität, Salman Rushdie zu verzeihen. Khameini war es, der drei Tage nach der „Fatwa“ diese Möglichkeit in Aussicht stellte. Rushdie formulierte daraufhin eine Erklärung des Bedauerns. Aber als Khomeini am 19. Februar 1989 die „Fatwa“ erneuerte und das Kopfgeld ausdrücklich guthieß, zog sich Khameini zurück.
Hat die westliche Außenpolitik dieses Terrain sondiert? Haben sich Kirchenmänner als Vermittler eingeschaltet? Gibt es eine Geheimdiplomatie im „Fall Rushdie“? Waren die Verhandlungen zum deutsch-iranischen Kulturabkommen Anlaß, das Thema – vorsichtig, diplomatisch, respektvoll – zu diskutieren? Warum hat Bonn das Kulturabkommen mit solcher Dringlichkeit betrieben? Außer einer symbolischen Aufwertung des Teheraner Regimes hätte es kaum etwas gebracht. Ein Goethe-Institut – der einzige Ort, wo ein Dialog zwischen den Kulturen stattfinden würde – ist im Protokoll der Verhandlungen zum Kulturabkommen von 1991 nicht vorgesehen. Auch ein Studentenaustausch wäre durch das Kulturabkommen nicht geregelt worden – der existiert im Fall des Iran nämlich bereits außerhalb dieses Abkommens. Wirtschaftlich wäre es ebenfalls nicht von Belang gewesen, denn Wirtschaftsleute lassen sich nach Auskunft eines Sprechers vom Deutschen Industrie- und Handelstag kaum von der Existenz eines Kulturabkommens beeinflussen, wenn sie in einem Land investieren wollen.
In der „Fatwa“ manifestiert sich der totalitäre Anspruch der Islamisten, als einzige definieren zu dürfen, was islamisch sei. Ihre Wirkung ist verheerend. Rushdie selbst betont in seinem Text zum vierten Jahrestag, daß es dabei nicht allein um ihn geht. Sie übt ihren Bann in der gesamten islamischen Welt aus. Wie viele kritische moslemische Intellektuelle und gemäßigte Geistliche lieber schweigen, um nicht in diesen Bann zu geraten, läßt sich allerdings nicht so genau ermessen wie Exportraten. Erst ein Rückzug der „Fatwa“ wäre wirklich Zeichen einer Liberalisierung des Iran.
Er wolle sich in Menschenrechtsfragen von niemand anders übertrumpfen lassen, hat Klaus Kinkel einmal gesagt. Wird Bonn die UN-Resolution gegen Menschenrechtsverletzungen im Iran und die „Fatwa“, die im März in Genf eingebracht wird, unterstützen?
Einige Regierungen wollen wegen der „Fatwa“ den internationnalen Gerichtshof in Den Haag anrufen. Warum nicht Bonn?
Salman Rushdie erzählt in seinem Text einen Witz: „Was ist blond, hat große Titten und lebt in Tasmanien? – Salman Rushdie.“ Nein – er ist es nicht. Salman Rushdie hält sich versteckt, aber er weigert sich zu verschwinden.
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