Bleibt's Geld im Viertel, blüht das Slum

■ Banken und Versicherungen verlassen verödende Stadtteile: Hält sie ein sozial orientierter Stadtteilkapitalismus zurück?

: Hält sie ein sozial orientierter Stadtteilkapitalismus zurück?

Wenn Harald Röder, Leiter der Denkfabrik des Hamburger Großversicherers Volksfürsorge, vom schnieken Domizil der Akademie der Volksfürsorge an der Alster durch den bunten Stadtteil St.Georg schlendert, überfallen ihn immer häufiger düstere Visionen. Er sieht unsichtbare rote Linien, die St.Georg schon in wenigen Jahren in eine tödliche Verslumungs-Spirale katapultieren könnten. Röder: „Das macht mir Sorgen.“

Röder weiß, wovon er spricht: Ein satter roter Filzstiftstrich, von Versicherungskonzernen und den Kreditabteilungen der Banken oft in trauter Eintracht um bestimmte Stadtteile gezogen, kann das Todesurteil bedeuten: „Red-Line“-Bezirke, in denen Versicherungen keine Policen mehr abschließen, und Banken keine Kredite mehr vergeben. Das ökonomische Slum- Virus vieler US-Städte bedroht auch Hamburg. Neue EG-Rechtsvorschriften sorgen dafür, daß das Kapital immer freier wird, auch freier zum Nein. Die bisherige Pflicht für Versicherungen, Policen für Gebäudeversicherungen anzunehmen, entfällt bald. Dann können die Versicherer ihre Computer anwerfen und die „schlechten Risiken“ bis auf die Hausnummer genau identifizieren. Diese Hausnummern, wen wundert's, summieren sich zu Straßenzügen und Stadtteilen, die so aus der Marktwirtschaft herausgekickt werden: Erst sagen die Versicherungen nein, dann folgt das Njet der Banken. Die Folge: Häuser verfallen, nichts wird mehr investiert, das saubere Geld zieht sich total zurück. Der Stadtteil vernichtet sich Stück für Stück selbst.

Für etwas aufgewecktere Kreise der Hamburger Polit- und Geldelite sind das Horrorvisionen: Slums drücken das Image einer Stadt, verdüstern das Wirtschaftsklima, die Kaufkraft sinkt. So folgert denn auch das „Forum Hamburger Führungskräfte“, ein lockerer Zusammenschluß von Top-Leuten der „zweiten Ebene“ (MacherInnen statt Repräsentanten), das Kapital müsse hier aus ureigenstem Interesse gegensteuern.

Daß die Sozialdemokratie den Slumtrend solo stoppen könnte, daran hat nicht nur das Forum seine Zweifel. Mit Sozialarbeitern und Stadtteilbüros, kritisieren Fachleute, lassen sich „soziale Brennpunkte“ nicht sanieren. So bereitet die Akademie der „Volksfürsorge“ gegenwärtig ein Projekt vor, das einen Dialog zwischen Politik, Wirtschaft und Betroffenen ermöglichen soll. Röder hat ein schlichtes Beispiel: Heute richtet ein Drogenabhängiger im Schnitt (versicherte) Schäden von mehr als 4000 Mark pro Tag an. Methadon- Programme kosten 20 Mark pro Tag und Nase, gelten aber derzeit als nicht finanzierbar.

Im Rathaus setzt bislang allein die GAL auf den neuen Trend. So referierte auf ihrer Tagung „Soziale Perspektiven statt soziale Brennpunkte“ kürzlich der Topmanager Michael Stuwe (Hanse-Merkur-Versicherung) über die „Interessen der Wirtschaft an sozialpolitischen Kooperationsmodellen.“

Wie das funktionieren kann, hat US-Chef Bill Clinton seinen WählerInnen im Wahlkampf in fast jeder Rede breit dargelegt. Eines der Zauberworte heißt „Social banking“. Vorzeigeobjekt ist die South Shore Bank in Chicago. Seit 1972 pumpt diese Bank Kredite in einen Stadtteil, der anfangs von der Slumspirale bedroht war und heute blüht. „Mit den gleichen Leuten, niemand wurde vertrieben“, wie Bankspezialist Udo Reifner diese Woche anläßlich eines Besuchs von Joan Shapiro, Vizechefin der South

1Shore Bank, in Hamburg begeistert feststellte. Shapiro hält ihr Modell, das Clinton seit 1988 auch in Arkansas ausprobieren ließ, für exportfähig. Das Erfolgsrezept ist verblüffend schlicht. Statt Bankengeld in ferne Großprojekte oder die internationale Finanzspekulation zu stecken, läßt sich vor der eigenen Haustüre Geld verdienen und gleichzeitig sozial verantwortlich handeln (was wiederum eine wachsende Zahl von privaten Geldanlegern zu schätzen weiß — siehe auch Seite 27). Sozialarbeit, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, professionelle Beratung, Risikokapitalanlage, Bank- und Immobiliengeschäft arbeiten dabei Hand in Hand. Es wird Geld verliehen an Personen und für Projekte, die

1durchs übliche Bankraster fallen. Gleichzeitig aber wird knallhart auf klassischen Kapitalismus geachtet. Die Projekte müssen sich rentieren. Die Kreditausfälle der Bank im Südwesten Chicagos liegen heute weit unter dem US-Durchschnitt, die Profitrate weit darüber. Erfolgsgeheimnis sind die Vernetzung der Institutionen und die gegenseitige soziale Kontrolle: Die Wege des Kapitals sind hier kein Geheimnis mehr. Ein weiterer wichtiger Vorteil: Die Schickimickisierung von außen, die Vertreibung durch Spekulanten, wird durch einen erstarkten Kapitalismus aus dem Viertel heraus behindert.

Ein Modell auch für Hamburg? Die Haspa gründet Stadtteilentwicklungsbanken in St.Georg, Wil-

1helmsburg, St.Pauli und anderswo, die Volksfürsorge spendiert Methadon — Drogen und Drogengeldwäschereien werden aus dem Stadtteil vertrieben? Die Vereins- und Westbank gibt der Hafenstraße einen Instandhaltungs- und Hoteleinrichtungskredit? Die Handelskammer berät Türken beim Aufbau drogengeldfreier Restaurants? So platt und einfach wird es natürlich nicht funktionieren. Dennoch, so meint eine wachsende Zahl von ExpertInnen, wird auf die Dauer kein Weg an unkonventionellen und ganzheitlichen Stadtteilkonzepten vorbei führen. Joan Shapiro: „Wir wollen aus allen roten Linien, die ausgrenzen, grüne Linien machen, die einladen und zeigen: Hier blüht es.“ Florian Marten