Ein bewegter Film läuft ab

■ Der Dresdner, die Vietnamesin Phuong, Hanoi, Saigon und das Befremden. Ein Reisebericht zu Vietnam

„Und, wie war's in Bangladesch?“ fragt die Kollegin nach unserer Rückkehr. „Wie hat's dir denn in Thailand gefallen?“ will meine Schwester am Telefon wissen. Meine Standardantwort lautet: „Anstrengend und interessant, aber ich war in Vietnam.“

Flughafen Hanoi, Paßkontrolle. Triste Wartehallen, stoische Bürokraten – irgendwie kommt mir die Mischung bekannt vor. Nur die einheimischen Fluggäste passen nicht recht in das Bild vom geduldig wartenden Menschen in der sozialistischen Mangelwirtschaft. Sie knäueln sich wild gestikulierend, kreischend und puffend vor dem Kontrolleur, der ohne eine Miene zu verziehen seine wichtige Prüfarbeit verrichtet.

Ein vermeintlicher Vietnamese tritt zu uns und stellt sich als Landsmann vor. Er lebe mit Frau und Kind in Dresden, erzählt er, und hätte vor zehn Jahren das letzte Mal einen Fuß in sein Heimatland gesetzt. Sein Verschwörerblick und ein leichtes Kopfnicken gehen in Richtung Nebenschlange. Die Vietnamesen seien laut, dreckig und faul, ganz anders als die Deutschen, verkündet er. „Haben Sie etwas dagegen, wenn ich zuerst...?“ fragt er dann, und ohne meine Antwort abzuwarten, kann ich sein frisch gekämmtes Haar und die exakt gelegte Bügelfalte seiner dunklen Hose von hinten bewundern.

Eine Vietnamesin holt uns ab. Phuong ist ganz anders als der Dresdner: eine seltsame Mischung aus freundlichem Opportunismus und stolzer Unnahbarkeit. Wir reden nicht viel auf der halbstündigen Fahrt in die Stadt, schauen lieber aus dem Fenster: grauer Himmel über flachem Land, paßt zu unserer müden Stimmung. Im Fernsehen sah alles viel bunter aus. Doch die über Reisfelder gebeugten Körper in Mao-Kluft, die Ströme von Fahrrädern auf der Landstraße, die spitzen Strohhüte der Frauen, die topfförmigen grünen Vietconghelme der Männer kommen uns bekannt vor.

Das Hotel wirkt noch vertrauter. Kein Wunder, haben doch französische Architekten das „Hoa Binh“ um die Jahrhundertwende im Jugendstil erbaut. Fünf Monatsgehälter müßte Phuong zusammensparen, um einmal dort übernachten zu können. Am nächsten Morgen trifft sie uns noch beim Frühstück an: verzuckerter Orangensaft mit Eis, grüner Tee, der lose in der Kanne zieht, Rührei, frisches Weißbrot und Butter. Zum Schluß eine Banane. Ventilatoren surren, weißlivrierte Kellner servieren. Mein Begleiter, ein übriggebliebener Linker, hat sich gerade in die französische Kolonialzeit zurückgeträumt und bekennt, daß er sich damals in Vietnam hätte wohlfühlen können. Aber heute... Selbst der Hanoi-Cocktail auf dem Dachgarten des Hotels gestern abend wollte ihm bei dem trostlosen Panoramablick über verfallene Häuser und kaum beleuchtete, von Schlaglöchern übersäte Gehwege nicht so recht munden.

Wir sind hier, um vietnamesische Filme anzusehen, auszuwählen und für eine Filmreihe zusammenzustellen, die durch ganz Deutschland wandern soll. Kaum haben wir den Speisesaal verlassen und die Drehtür erreicht, stürzen schon zwei Rikschafahrer die Stufen zum Hotel hoch. Phuong winkt ab. Ein Wagen steht uns zur Verfügung. Der Chauffeur fährt vor. Die drückende Hitze, die uns eben noch den Atem genommen hat, bleibt draußen.

Ein Film läuft ab. Ein sehr bewegter Film mit vielen Statisten und ständig wechselnden Hauptdarstellern. Es wimmelt vor Menschen auf und in Fahrzeugen. Mehr auf. Eine alte Frau mit spitzem Strohhut rückt ins Bild, kommt näher auf dem Fahrrad. Großaufnahme Gepäckträger, Berge von Kohl, Schnitt. Ein Mann, eine Frau, zwei Kinder. Sitzen hintereinander auf einem Moped. Frau hält Hut fest und drückt Baby an Bauch, kleiner Junge schlingt Arme um Mann, vorbei. Ein Mädchen in Schuluniform. Strahlendes Weiß auf staubiger Straße. Hochgeschlossenes, engangliegendes Oberteil, an den Seiten geschlitzt. Lange schwarze Haare und weiße Rockschößchen flattern im Fahrtwind. Vorbei. Fond eines Busses. Auf der Rückbank vier Männer mit weißen Binden um den Kopf. Stimme aus dem Off: „Weiß ist die Farbe der Trauer. Die Männer fahren zu einer Beerdigung.“ Kameraschwenk zu Boden. Gelbe Plastiksandalen bewegen sich kreisförmig auf Fahrradpedalen, vorbei. Weiße Plastiksandalen, gelbe Plastiksandalen, lauter Plastiksandalen. Schnitt.

Ein Tor mit der Aufschrift „Fa Fim“ wird geöffnet. Wir sind angekommen. In diesem ehemaligen Lager für amerikanische Kriegsgefangene können ausländische Gäste noch heute die Schrecken des Vietnamkrieges nachempfinden. Auf der Leinwand. Denn hier, mitten in Hanoi, hat sich rund um einen von blühenden Bäumen gesäumten künstlichen Teich Vietnams größte Firma für den Import und Export von Filmen angesiedelt.

Die vietnamesische Filmproduktion boomt, so erklärt uns Nguyen Duy Chieu, der Direktor von Fa Fim, bei bitterem grünen Tee und süßen Bananen. Nur mangele es erstens an Geld und zweitens an Interesse aus dem Ausland. Während unsere Dolmetscherin Phuong eine kleinkindhohe, mit der Skyline von Singapur geschmückte Thermoskanne unter dem Tisch vorzieht und heißes Wasser in die Teekanne nachfüllt, versichern wir eifrig unsere besten Absichten, beiden Mängeln zu Leibe zu rücken. Deshalb sind wir schließlich da. Der Direktor ist zufrieden und lächelt fast so süß wie die Schauspielerin auf dem Kalenderbild hinter ihm an der Wand. Nur Ho Chi Minh blickt, gerahmt in schlichtem Nußbaum, ernst auf uns herab.

Am nächsten Morgen sind wir fest entschlossen, uns den vietnamesischen Realitäten anzupassen. Wir essen „pho“, die berühmte Nudelsuppe mit viel Gemüse und Rindfleisch, zum Frühstück, dann erkunden wir bei einem Verdauungsspaziergang die Stadt. Auf den Gehwegen wird gehandelt. Hinter pyramidenförmig gestapelten Apfelbergen, Limonenhügeln, Bananenstauden und Papayatürmchen sitzen geschäftstüchtige Frauen, hinter Regalen mit Getränken und Süßigkeiten wird Geld gezählt. Eine alte Frau hockt auf dem Boden, neben sich eine Personenwaage. Sie scheint selbst nicht recht daran zu glauben, daß jemand für ein paar hundert Dong sein Gewicht bei ihr überprüfen lassen will. Unter Fettleibigkeit jedenfalls leiden die Vietnamesen nicht. Wir schlängeln uns zwischen abgestellten Fahrrädern und Mopeds, zwischen Nudelsuppenständen und brettspielenden Männern hindurch. Manchmal müssen wir auf die Straße ausweichen, wo mit Möbelstücken, Gemüsesäcken oder Baumstämmen beladene Fahrräder und Rikschas haarscharf an uns vorbeiziehen. Freundlicherweise kündigen Mopeds und Autos ihre Überholmanöver durch Hupen an – doch die gutgemeinte Warnung schlägt bei so vielen langsamen Verkehrsteilnehmern in einen akustischen Dauerangriff aufs Trommelfell um.

Spazierengehen – vielleicht existiert das Wort im Vietnamesischen gar nicht. Nach einer halben Stunde Slalomlauf sinken wir erschöpft in die winzigen Korbstühle eines Cafés am Hoan-Kiem-See. Der Blick aufs Wasser und auf die kleine Schildkrötenpagode mitten auf dem See stimmt uns milde. So antworten wir auf die Frage der Kellnerin, wie uns Hanoi gefalle, mit einem salomonischen „teilsteils“. Was wir nicht auszusprechen wagten, verkündet die Kellnerin unter Zuhilfenahme ihres Wörterbuches in grauenhaftem Englisch: Hanoi sei häßlich und die Armut deprimierend.

Nach zehn Tagen Hanoi können wir noch nicht einmal „danke“ und „bitte“ im vietnamesischen Singsang artikulieren. Unsere Entschuldigung: Jede einzelne Silbe kann schließlich in sechs Tonlagen geflötet werden und damit völlig verschiedene Bedeutungen gewinnen. Zum Glück sitzt Phuong im Kinosaal hinter uns und übersetzt die Dialoge. Wir sehen Filme über die jahrhundertelange chinesische Fremdherrschaft, die jahrzehntelange französische Kolonialherrschaft, den jahrelangen Krieg mit den Amerikanern. Wir sehen auch Filme über das moderne Vietnam, die von Liebe und Verrat, Korruption und Außenseitertum handeln. Viele Tränen fließen, doch im Gespräch zeigen die Filmemacher keine Emotionen.

Weder Wut noch Enttäuschung spiegelt sich auf den Gesichtern, als wir auf den zunehmenden Fremdenhaß in Deutschland zu sprechen kommen. Das seien doch nur ein paar verrückte Skinheads, beschwichtigen sie. Im allgemeinen schätzten sie die Deutschen als ein hochkultiviertes Volk, das seit langem in freundschaftlicher Verbindung mit Vietnam stünde. Schon Beethoven, weiß etwa der Regisseur Hai Ninh zu berichten, hätte sich von der vietnamesischen Musik beeinflussen lassen.

In Saigon – oder Ho-Chi-Minh- Stadt, wie die südliche Metropole offiziell heißt – holen uns zwei junge, westlich gekleidete Frauen vom Flughafen ab. Loc trägt ein T- Shirt mit dem Aufdruck „Australia“. Sie hat in Babelsberg bei der DEFA Film studiert und schwärmt von ihrer zweiten Heimat Deutschland: Alle wären so freundlich gewesen, selbst an Broiler und Kartoffeln hätte sie sich problemlos gewöhnt. Ihre Kollegin Mai Quoc Hoa lächelt still dazu und spielt mit dem kleinen silbernen Känguruh an ihrer Halskette. Als wir sie auf „Doi moi“, die vietnamesische Variante von Perestroika, ansprechen und wissen wollen, ob sich seit 1986 mit der Öffnung Vietnams nach dem Westen viel für sie verändert hätte, winkt Loc ab. Eigentlich wäre alles beim alten geblieben. Nur die monatlichen Lebensmittelrationen gebe es nicht mehr. Ihren schmalen Verdienst könne sie heute außerdem in einer Vielzahl von privat betriebenen kleinen Geschäften statt in staatlichen Kaufhäusern ausgeben. Was die Wirtschaft immer noch hemme, sei das von den

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USA seit dem Ende des Vietnamkriegs verhängte Handelsembargo.

Saigon wirkt westlicher als Hanoi. Statt Mao-Look tragen die Jugendlichen Jeans und Miniröcke, statt Händchenhalten auf der Parkbank am See zieht es sie in Nachtclubs, Discos und Musikcafés. Loc warnt uns: In Saigon sei zwar mehr los, doch das Leben wäre härter und hektischer als im eher traditionellen Norden. Gab es in Hanoi kaum Bettler und Obdachlose, so stolpern wir in Saigon buchstäblich über das Elend. Vor den Stufen zu einem Bankgebäude haben sich, mitten auf dem Gehweg, Vater und Sohn auf einem ausgebreiteten Pappkarton zum Schlafen hingelegt.

Kurz vor dem „Maxim“, dem angeblich besten Restaurant Indochinas, streckt uns eine Frau mit vorwurfsvoller Miene ihren Säugling entgegen. Mit 1.000 Dong kaufen wir uns kurzfristig vom schlechten Gewissen frei. Als wir das gutgefüllte Lokal betreten, ist die Bühnenshow gerade zu Ende. So können wir nur die letzten schlangenhaften Verrenkungen einer geschmeidigen Tänzerin bewundern und müssen uns der Speisekarte zuwenden. Die hochgelobte französische Küche erschöpft sich in Steaks mit Pommes. Als am Nebentisch eine Mappe mit vielen bunten Bildern kursiert, macht mein Begleiter Stielaugen: „Das scheint hier so eine Art Puff zu sein. Lauter Fotos von mandeläugigen Schönheiten.“ Da geht schon die Tür auf, und eine Frau in enganliegendem Abendkleid steuert zielstrebig auf den Tisch direkt an der Bühne zu. Zwei der dort sitzenden asiatischen Herren haben schon mehrfach der Sängerin das Mikrofon aus der Hand gerissen und, ihre dicken Bäuche im Takt schwenkend, ein Liedlein hineingegrölt. Ob auf japanisch, taiwanesisch, singapurisch oder vietnamesisch, wissen wir nicht, aber ihre Körpersprache verrät: Sie finden sich unwiderstehlich. Jetzt beglücken sie mit manchem Scherz ihre neue Tischdame und füttern sie mit Stäbchen. Es reicht. Als wir von der kühlen Restaurantluft wieder in die schwüle Abendluft hinaustreten, steht fest: Wir bleiben keinen Tag länger.

Zwischenlandung in Singapur. Das Geld wächst in der ehemals britischen Kronkolonie buchstäblich den Himmel hinauf, und trotzdem liegt eine Totenstarre über der Stadt. Alles ist sauber und glatt, der Rasen zwischen den riesigen Apartment- und Bankkomplexen kurz geschnitten, die Stadtautobahn ordentlich in Spuren aufgeteilt. Der Dresdner würde sich hier wohlfühlen.