piwik no script img

■ Über den Wolken war die Spekulation grenzenlosMetamorphosen eines Entführers

Bis vorgestern abend war es eine große Geschichte. Da nimmt ein Passagier ein ganzes Flugzeug als Geisel und erweckt international nicht nur Erinnerungen an das Lockerbie-Trauma, sondern auch an die blutigen Ausgänge so mancher terroristisch motivierter Flugzeugentführungen wie damals Mogadischu. Heute haben wir weltweit Kriege, Krisen und Konflikte, die sich in unterschiedlichster Brutalität und mit geringer medialer Halbwertzeit (man denke an die Gefangenenlager in Bosnien und die vergewaltigten Frauen) artikulieren. Eine Flugzeugentführung aber gab es schon lange nicht mehr, zumindest keine mit einer solch internationalen Resonanz.

Vielleicht ist auch dies ein Grund, warum sich die Bildmedien mit geradezu beängstigender Verve dem Geschehen widmeten: Reality-TV. Nur – es war halt nicht so spannend wie bei Gladbeck, als man sogar noch mit den Entführern plauschen konnte. Was Wunder also, daß die Fernsehmacher reagieren mußten. Je weniger der Journalist weiß, desto wilder wuchert die Spekulation. Aus dem anfänglichen „jungen Mann“, mit dem der Kapitän eine „freundschaftliche“ Kontaktaufnahme versuchte, wurde schon bald ein „nervöser“ Mensch, dessen Herkunftsland Bosnien sein sollte. Ihm wurde wohlwollend unterstellt, aus Verzweiflung über den grausamen Krieg in seiner Heimat ein Fanal setzen zu wollen, nämlich in New York direkt an die UNO zu appellieren, sich doch seines Landes anzunehmen. Aus dem Bosnier wurde bald darauf ein Somalier. Doch dem nicht genug. Man hatte ihm in Norwegen das Asyl verweigert und drohte, ihn abzuschieben.

Je höher das Flugzeug auf der transatlantischen Route über den Wolken schwebte, desto grenzenloser wurde der Entführer zur Projektionsfläche unartikulierter Ängste: vom verzweifelten Bosnier über den ausgemergelten Somalier bis hin zum abgeschobenen Asylsuchenden – sie alle suchen uns heim, wollen etwas von uns und bekommen es nicht. Also nehmen sie die Dinge in die Hand – Notwehr sozusagen. Fehlte nur noch die Meldung, es handele sich um einen arbeitslosen Ossi, der in den USA politisches Asyl beantragen wolle, weil man seine Menschenrechte permanent mit Füßen träte... Welche Aussichten! Doch hinter der massiven Abwehrhaltung und den Feindbildern schlummert auch dies – das schlechte Gewissen unserer Gesellschaften, nicht genug zu tun.

Und dann die Landung im Land der brave and free, die seltsame „Stürmung“ der Maschine und die Festnahme. Da war der Kidnapper schon am Boden, eingeschrumpft, eingedampft: jünger als angegeben, und nur noch ein Äthiopier, über dessen Motive die Weltöffentlichkeit nichts Näheres weiß und wohl auch nie erfahren wird. Die nächsten Jahre wird er vermutlich in einem amerikanischen Knast verbringen. Aber das ist dann keine große Geschichte mehr. Andrea Seibel

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen