Erst allmählich ästhetisiert

Ein kulturhistorisches Buch von Norbert Fischer über deutsche Friedhöfe  ■ Von Anke Westphal

„Als sie den Gottesacker öffneten, schwamm er flammig im Schmelz und Brand der Abendsonne. Hätte Vult zehn Meilen umher nach einem schönen Postamente für eine Gruppe brüderlicher Erkennung gesucht, ein besseres hätt er schwerlich aufgetrieben, als der Herrnhuter Totengarten war mit seinen Beeten... Wie schön war hier der Knochenbau des Todes in Jugendfleisch gekleidet, und der letzte blasse Schlaf mit Blüten und Blättern zugedeckt.“ (Jean Paul)

Nicht immer wurde der Gang zum Friedhof so blumig und sentimental beschrieben wie in Jean Pauls Romanfragment „Flegeljahre“. Dessen Protagonist Vult besucht allerdings einen ganz besonderen Gottesacker, den der Herrnhuter Brüdergemeinde. Den Pietisten galt das Sterben nicht als traurige Angelegenheit: Trauerkleider gab es nicht, die Särge wurden weiß gestrichen und mt bunten Kränzen geschmückt angesichts der „größten Freuden, die wir untereinander in Herrnhut haben, wenn wir Brüder und Schwestern sehen zur Ruhe bringen“ (Christian David). Die Metaphysik des Todes gewann in der Sprache der „Brüder und Schwestern“ eine geradezu fröhliche Bildlichkeit. Es wurde nicht gestorben, sondern „der Leib ausgesät“ als „Korn“ der verheißenden Auferstehung, und dies geschah, der Utopie der Brüder-Unität von einer erneuerten, einfachen und optimistischen Frömmigkeit folgend, in streng demokratischer Gleichstellung der Toten, unabhängig von Stand und Beruf, unter einheitlich „flachen Beeten“ – schmucklosen, in den Rasen eingelassenen Platten. Den Sensenmann als Gärtner auftreten zu lassen, stellt nur eine von unzähligen Varianten des Umgangs mit dem Tode dar. Der norwegische Schriftsteller Ingvar Ambjörnsen z.B. sinnierte angesichts des „Friedhofs der Namenlosen“ auf Amrum einmal, daß Friedhöfe nicht nur Geschichten erzählen, sondern „überall in Europa die sichersten Übernachtungsstätten sind“. Bizarr und pragmatisch.

Der Tod als Störer der Gesellschaft, der die Zeit relativiert und begrenzt und damit dem Augenblick die Beliebigkeit nimmt, findet auf dem Friedhof in mindestens dreifacher Hinsicht seine Inszenierung und Verwandlung: als religiöses, ästhetisches und – hygienisches Phänomen. Wortreich ist der „Ort des Friedens und der Stille“ umschrieben worden, als „Vorspiel zum Paradies“ (Tudor Arghezi), „Spielplatz Gottes“, „Ort des Gedächtnisses“ und Reich des Memento mori. Die Möglichkeit einer letzten Darstellung und Selbstdarstellung über den Tod hinaus transformierte das Bewußtsein der Vergänglichkeit, Trauer und Tragik in einen Kult der Bilder und Symbole, deren volkskundliche Dechiffrierung Norbert Fischer in einem Buch über historische Friedhöfe in Deutschland unternahm. Selbiges enthält viele schöne Bilder des Fotografen Wolfgang Jung und trägt den sinnigen Titel „Das Herzchen, das hier liegt, das ist sein Leben los...“ – so gelesen auf dem Friedhof Köln-Melaten, der seiner pompösen Grabmäler wegen im Volksmund auch „Friedhof der Millionen“ genannt wurde. Der Kölnisch-Wasser-Fabrikant Johann Maria Karl Farina ließ sich dortselbst einen drei Meter hohen Engel vor romantischem Altar mit Kleeblattkreuz auf seine späteren sterblichen Überreste setzen.

Fischer liest christlich-jüdische Bestattungssitten- und -orte samt deren Veränderungen im Lauf der Zeit über Schnurren, Histörchen und gut recherchierte Topographie so ganz und gar nicht schwermütig philosophierend in den gesellschaftlichen Kontext ein. Der Spaziergang durch jenen Teil der Kulturgeschichte, der mit den meisten Palmwedeln, Engeln, Sensen, elegischen Frauengestalten, Göttern Chronos und Kreuzen dekoriert wurde, führt von Amrum über Berlin, Hamburg, Dresden oder Heidelberg ebenso direkt ins Nachdenkliche wie Skurrile. Da entdeckt man über dem Eingang zum Seemannsfriedhof auf Föhr den knöchernen Fingerzeig „Es ist noch Ruhe vorhanden!“, und noch ehe man sich schaudernd abwenden kann, grient man über den letzten Willen eines Mannes, der im Winter immer fror – sein Grab ziert ein großer, gußeiserner Ofen. Natürlich wird auch bei Fischer an diesen und jenen prominenten Toten erinnert, ohne daß es jedoch zugeht wie bei Adrienne Thomas. „Der Friedhof beginnt allmählich eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Schulexamen anzunehmen. Da liegt Simrock. Hat der nicht das Nibelungenlied übersetzt? Dort Ernst Moritz Arndt, Vater des nationalen Standpunktes, schöner Märchen und vieler Gedichte zum Auswendiglernen“, wehklagte die Schriftstellerin 1934 über einen Besuch auf dem alten Bonner Friedhof, der u.a. die Gräber der Wagner-Muse Mathilde Wesendonk, der Schumanns und das von Beethovens Mutter beherbergt. Die berühmten „Herzchen, die dort liegen“, laufen vielmehr als Kapitel „Menschliches, allzu Menschliches“ im Lexikon der Kulturgeschichte. So beschwerte sich Clara Schumann über den „fehlenden geistigen Ausdruck“ im Porträtrelief ihres Mannes, dessen Grabmal linker Hand und trefflich allegorisierend von einem geigenden Engelchen flankiert wird.

Natürlich ist das Erscheinungsbild von Friedhof und Grabmal an gesellschaftliche Veränderungen gebunden. Erst innerhalb der bürgerlichen Entwicklung verlor der Totenkult kirchliche Anbindung sowie religiösen Aspekt und wurde allmählich ästhetisiert. Die Bestattungen mutierten außerdem immer mehr zum hygienischen Problem der Kommunen. Nachdem Kirchenbesucher ob der Verwesungsdünste noch um 1800 reihenweise in Ohnmacht sanken und Seuchen ausbrachen, wurden die ursprünglich als Vorplatz der Kirchen angelegten Friedhöfe an die Stadtgrenzen verlagert. Aber erst 1878 konnte gegen den Widerstand des Klerus das erste deutsche Krematorium in Betrieb genommen werden. Friedhofsanlagen und Grabmalsformen unterliegen, wie alle Alltagskultur, wechselnden Moden. Man wurde auf Camposanto, Wald- oder Bergfriedhof begraben, ließ sich je nach Geldbeutel und Geschmack modern- minimalistisch betten wie der Sammler Karl Funke-Kaiser in Köln oder kompakt-ägyptisierend wie Familie Oppenfeld in Berlin- Kreuzberg. Es gibt Gräber mit Buchstabenrätseln und Afrikakarten, in denen Vertreter heutzutage vergessener Berufe wie Briefmaler oder Paternostermacher in „die reine Natur zurücksanken“ (Thomas von Aquin). Arme-Leute- Särge wurden wegen ihrer Flachheit „Nasenquetscher“ tituliert und endeten nicht selten im Massengrab, während prunkvolle Familiengruft oder bewußt schlicht gehaltenes Prominentengrab auch an der letzten Station des Lebens soziale Differenzen festschrieben. Die rabenschwarz glänzende Grabplatte des Theaterleiters, Schauspielers und Stückeschreibers August Wilhelm Iffland in Berlin verkündet, ganz Understatement, „Iffland starb“. Punkt.

Man könnte noch manche Anekdote zum besten geben, wie die vom Hamburger Tierparkgründer Hagenbeck, der ein steinernes Konterfei seines Lieblingslöwen „Triest“ aufs Grab befahl, nachdem sein Sarg auf testamentarische Verfügung hin an allen Tieren des Zoos vorbeigetragen werden mußte. Die Metaphysik des Geistes, die die Unsterblichkeit der Seele in der Statue symbolisiert und in Euphemismen wie „heimgehen“ verbalisiert, setzt sich nirgends deutlicher gegen das biologische Verenden als auf den Friedhöfen. Schlimmer als alles wirkliche Sterben muß jedoch die Angst vor dem Scheintod gewesen sein, der Friederike Kempner zu folgenden unsterblichen Versen inspirierte: „Dem Tod konnt' er ins Antlitz sehn/doch jetzt im Aug ihm Tränen stehn!“

Norbert Fischer: „Das Herzchen, das liegt hier, das ist sein Leben los... Historische Friedhöfe in Deutschland“. Mit einem Beitrag von Ingvar Ambjörnsen und Fotos von Wolfgang Jung. Verlag am Galgenberg, 1992, 160 S., geb., 78,00DM