Auf leisen Pfoten zurück im Revier

Die fast ausgestorbene Wildkatze siedelt sich wieder in den Mittelgebirgen an/ BiologInnen kommen dem scheuen Tier nur langsam auf die Spur/ Horrormärchen und Jägerlatein über das „Raubzeug“  ■ Von Heide Platen

Felis silvestris Schreber, die Europäische Wildkatze, sitzt auf einem Baumstumpf. Sie blickt über die linke Schulter in Richtung ihres buschigen, markant geringelten Schwanzes mit der schwarzen, stumpfen Spitze. Das Fell ist dicht, rauh und gelblich wie Ährengrannen, verwaschen grau gestreift. Über das Rückgrat zieht sich längs ein dunkler, schmaler „Aalstrich“ vom Nacken bis zur Schwanzwurzel. Ab und zu blinzelt das Katzentier aus hellen, schiefergrünen Augen träge in die Wintersonne. Dann reckt es sich ausgiebig, sträubt gähnend die prächtigen Schnurrhaare. Felis silvestris ist an diesem Tag im späten Januar so drollig wie Nachbars Mieze und schreit ihr heiser-helles „Miaauu“ durch den Wildpark. Der Kuder (männliche Wildkatze, die Red.) rührt sich nicht aus seinem Unterschlupf. „Der ist vielleicht noch fertig von heute nacht“, sagt der Leiter der Wiesbadener Fasanerie, Dirk Neumann. Die beiden Katzenjungen aus dem Vorjahr sind inzwischen in die Auswilderungs- und Aufzuchtstation für Wildkatzen im bayerischen Wiesenfelden umgesiedelt worden. Der nächste Wurf wird wahrscheinlich Mitte April zur Welt kommen.

Die Europäische Wildkatze ist ein „sehr heimlich lebendes und menschenscheues Tier“, gar das „heimlichste Raubwild“, schreibt Rudolf Piechoki aus Halle in dem Standardwerk „Die Wildkatze“. Darüber, ob sie eine eigene Art ist, streiten sich die Gelehrten seit dem vorigen Jahrhundert und sind damit noch lange nicht zu einem Ende gekommen. Neuere Untersuchungen halten sie für eine eigenständig fortentwickelte, aber enge Verwandte der asiatischen und afrikanischen Steppenkatzen (Felis silvestris lybica), zu denen die Falbkatze als unbestrittene Vorfahrin der Hauskatze gehört. Laien ist es, da ist sich Dirk Neumann sicher, „völlig unmöglich“, sie vom gewöhnlichen Stubentiger zu unterscheiden. Das gilt erst recht für die Jungen, deren Streifen wesentlich schärfer gezeichnet sind als die der Alttiere. Die Wildkatze, merkt der Biologe Elmar Hoßfeld an und stößt sich dabei schon an dem Begriff, sehe außerdem wesentlich weniger „wild aus, als manche der derzeit modernen Zuchtformen der Hauskatze“. Wild, tadelt er, „das heißt doch nichts anders als nicht zahm! Sie meidet die Menschen.“

Und so ist sie auch still und klammheimlich — wie das eben ihre Natur ist — und nur von wenigen Experten beobachtet in die deutschen Mittelgebirge zurückgekehrt, nachdem sie in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts als fast ausgestorben galt. Sie lebt im Pfälzer Wald und im Harz, im Reinhardswald, in der Rhön, im Rheingau, der Eifel, im Pfälzer Wald und im Hunsrück. Wirklich leibhaftig gesehen haben sie allerdings nur sehr wenige Menschen. Und das wird auch so bleiben. Deshalb sei die Geheimhaltung ihrer Reviere, wie noch in den letzten Jahren manchmal praktiziert, veraltet und überflüssig. Hoßfeld: „Einen Wildkatzen-Tourismus kann es gar nicht geben.“ Die Wildkatze jagt vorwiegend in der Dämmerung. Nur in abgelegenen Gegenden genießt sie auch einmal, wärmeliebend wie ihre afrikanischen Verwandten, ein Bad in der Mittagssonne. Große Kälte, Schnee und Nässe im Frühjahr machen ihr, und noch mehr ihren Jungen, zu schaffen. Bei Regen verläßt die Energiesparerin ihr Versteck oft tagelang nicht. Wichtiger sei es, ihr durch Öffentlichkeit Schutz zu bieten. Hoßfeld: „Außerdem nimmt man den Menschen sonst auch etwas weg!“

Obwohl die Wildkatze ganzjährig geschützt ist, erholen sich die wenigen Bestände nur langsam. Der „Aktionskreis Wildkatze“, zu dem sich im Januar 1992 rund 40 ExpertInnen locker zusammengeschlossen haben, weiß um die Bedürfnisse der Tiere. Sie brauchen einen vielfältigen, artenreich strukturierten Lebensraum mit lockerem Mischwald, Unterholz, Lichtungen und trockenen Höhlen in alten Bäumen. Außerdem müßten die kleinen „inselartigen Populationen“ sich geschützt vernetzen können, zum Beispiel entlang von Bächen und Flußauen.

Neuere der wenigen Erkenntnisse über die Lebensräume stammen von Telemetrie-Untersuchungen aus Frankreich und Schottland. Durch Sender ließ sich orten, daß Wildkatzen nicht solche strengen Einzelgänger sind wie Luchse. Sie treffen sich in ihren Revieren auch hin und wieder außerhalb der Ranz, verändern ihr Verhalten je nach Nahrungsangebot. Vor allem die Weibchen haben oft Gebiete, die sich mit denen von Männchen überschneiden. Auch Größe und Fellfarbe können variieren. Die Biologin Ulrike Reif stellt dazu fest: „Man müßte das alles mal gründlich vergleichen. Wir haben bisher viele Einzelinformationen, aber keine Regeldaten.“

Das allein nützt Felis silvestris aber noch gar nichts. Sie stand nach der Ausrottung von Bär, Wolf und Luchs lange Zeit als Nr.1 auf der Haßliste der Jäger und Bauern, galt als gefährliches „Raubzeug“. „Alles, was Eckzähne hat“, sagen KritikerInnen verbittert, „ist hier gnadenlos ausgerottet worden.“ Dabei hatte schon „Tiervater“ Alfred Brehm im vorigen Jahrhundert eine Lanze für die Wildkatze als Mäusefängerin gebrochen. Neuere Analysen sind da genauer. Über 90 Prozent der Beute besteht aus einem Cocktail aus Feld-, Wald-, Wühl- und sonstigen Mäusen. Daß sie in Notzeiten auch Aas und geschwächte größere Tiere erbeutet, trug bei älteren Untersuchungen des Mageninhaltes toter Wildkatzen zu ihrem schlechten Ruf bei. Auf die für sie unökonomische Vogeljagd geht sie nur selten mit Glück und nur kurze Zeit im Frühjahr, wenn die Jungvögel erste Flugversuche machen. Dagegen sind alle Wildkatzen gute Schwimmerinnen und können auch geschickt Fische fangen.

Brehm nahm die Wildkatze zwar in Schutz, berichtete aber dennoch die Geschichte eines Jägers, der von einem Tier angefallen und so schwer an Kopf und Nacken verletzt wurde, daß er starb. Auch die Gebrüder Grimm trugen der Katzenangst in ihrem Märchen von den „Bremer Stadtmusikanten“ zur Abschreckung der Räuber und der Zuhörer Rechnung: „Aber die Katze verstand keinen Spaß, sprang ihm ins Gesicht, spie und kratzte.“

Die Wildkatze fand selten „etwas Besseres als den Tod“. Zur allgemeinen mittelalterlich-christlichen Katzenfurcht taten das Jägerlatein und die Phantasien der Tierpräparatoren ihr übriges. Die Jagdzeitschrift Hubertus bildete 1925 eine Dermoplastik mit dem dramatischen Titel „Das Ende“ ab: eine ausgestopfte Wildkatze krallt sich mordgierig um den Hals eines balzenden Auerhahns. Die Rachen anderer Katzen-Präparate sind blutrünstig aufgerissen, die Krallen gespreizt, der eigentlich fleischfarbene Nasenspiegel, eines der wichtigsten Erkennungsmerkmale der Wildkatze, ist finster eingeschwärzt.

An all diesen Schauergeschichten, sagt der Förster und Katzenexperte Frank Raimer von der Niedersächsischen Forstverwaltung, ist nur eines wahr: Eine in einer Falle gefangene Wildkatze mit zerschmetterter Pfote wird, ebenso wie jede Hauskatze auch, nicht gerade vor Vergnügen schnurren. Raimer ist im Harz „sozusagen mit den Wildkatzen aufgewachsen“ und weiß sie deshalb zu finden. Er weiß von einem Kollegen, der ihnen im Schwarzwald durch Kotfunde und Kratzspuren auf die Schliche gekommen war. Der habe trotz seines Wissens über die Lebensräume und -bedingungen über zehn Jahre Geduld gebraucht, bis er die erste lebende Wildkatze zu Gesicht bekam. Raimer habe, sagen viele seiner Kollegen, dafür „wirklich ein ganz besonderes Händchen“. Er selbst mag das nicht bestreiten. Man müsse aber „schon ein richtiger Waldläufer sein“, also leise, lange und geduldig auf seinem Beobachtungsposten ausharren können. Raimer verweist auf den Nutzen der Mäusefängerin: „Darüber sollten wir bei dem heutigen Zustand der Wälder nur froh sein.“ Und: „Es gibt dort viel mehr Mäuse, als gefressen werden können.“

Die drei Hauskatzen von Elmar Hoßfeld und Ulrike Reif sind scheu, zwei von ihnen ähneln ein wenig ihren wilden Vettern. Hoßfeld sinniert über den Namen seines Studienobjektes nach. Möglicherweise habe der sich erst im Laufe der Jahrhunderte zur „Wildkatze“ gewandelt.

Brehm jedenfalls kannte sie auch als Waldkatze oder -kater und „Baumreiter“. Aber auch das, denkt er weiter, sei vielleicht historisch nicht ganz richtig. Zwar komme die Katze heute fast nur noch in den mittleren Gebirgsgegenden vor, aber das, mutmaßt er, müsse nicht immer so gewesen sein. Möglicherweise hat sie sich dorthin aus anderen Lebensräumen, zum Beispiel den Flußauen, vor den Menschen zurückgezogen. Dabei geben sich die Jäger in der letzten Zeit durchaus Mühe, ihren Ruf als Katzenfeinde loszuwerden. Die „Schutzgemeinschaft Deutsches Wild“ machte sie im vergangenen Herbst sogar zu ihrem „Tier des Jahres“. Artenschützer trauen dem Braten allerdings nicht so ganz. Denn in einer Mitteilung zur Nominierung heißt es, man wolle zwar die Wildkatze schonen und hegen, nicht aber streunende Hauskatzen. Der Abschuß der Hauskatzen, meinen die Jäger, sei weiterhin notwendig, um die „Zerstörung der genetischen Integrität durch Kreuzung mit den verschiedenen Arten der Hauskatze“ zu verhindern.

Diese präventive Art des Artenschutzes aber bringt die Wildkatze, neben dem Straßenverkehr, durch unausweichliche Verwechslungen immer wieder um. Doch während sich noch im vorigen Jahrhundert ein Förster, der „Katzenjäger von der Hohen Rhön“ der Strecke von 43 Tieren rühmte, werden heute versehent- oder absichtlich erlegte Wildkatzen oft verschämt und diskret zur Seite geschafft.

In den Wäldern wirklich schädlich wildernde, entlaufene Hauskatzen gibt es eigentlich nicht, sagen Raimer und Hoßfeld übereinstimmend. Die Haustiere halten sich an ihre eigenen Reviere in Menschennähe. Allein im Wald wären sie hoffnungslos verloren und könnten gar nicht überleben. Auch die Befürchtung, daß Bastarde, sogenannte Blendlinge, sich vermehren und im Wald die Art verfälschen könnten, ist Fiktion. Daß Wildkatzenweibchen sich mit Hauskatern gepaart hätten, ist bisher in keinem einzigen Fall belegt. Es könne schon sein, sagen die Wildbiologen, daß junge Kuder, wenn sie auf Standortsuche auf die Wanderung am Randgebiet der eigenen Population gehen müssen, auch einmal einer weiblichen Hauskatze zu nahe treten. Deren Junge, ist jedoch die allgemeine Erahrung, wachsen dann beim Muttertier und damit bei den Menschen auf. Sie sind meist nur etwas scheuer als ihre domestizierten Verwandten. Gäbe es größere Vermischungen, vermutet Hoßfeld, hätten beide Arten nicht so lange unbhängig voneinander überleben können. Sie fordern deshalb, zum Ärger etlicher Jäger: „Es dürfen gar keine gestreiften Katzen mehr gejagt werden!“ Dort, wo Wildkatzen vorkommen, sollten auch keine Fallen gestellt werden, auch nicht gegen Steinmarder, Waschbären und Hauskatzen, weil mit Fallen nicht „selektiv“ gejagt werden könne. Eine Chance für die Wildkatze?