Knalleffekt durch Common sense

Frontalunterricht oder Paglia für Anfänger: Neue Texte zum Thema „Krieg der Geschlechter“ von der umstrittenen amerikanischen Pro-Bildungs-Anti-Feministin Camille Paglia  ■ Von Katharina Rutschky

Wem ihr erstes Buch zu schwer war – die deutsche Übersetzung wiegt immerhin anderthalb Kilo –, der kann jetzt zu dem handlichen Paperback greifen, der Essays, Kommentare und Interviews der amerikanischen Kulturwissenschaftlerin aus den Jahren 1990 und 1991 versammelt. Das war die Zeit, in der aus einer Dozentin ohne Karriereprobleme (weil ohne dieselbe) ein berühmt-berüchtigter Medienstar wurde.

Die Gründe dafür sind teils in der Sache zu suchen, die sie vertritt, teils liegen sie in ihrer mit Adrenalin überversorgten Persönlichkeit. Doktor Paglia, der man so gerne ihren Biologismus und die Schärfe ankreidet, mit der sie die kruden physischen Fakten des Geschlechts ins Bewußtsein rückt, wird mir diese eigentlich unstatthafte Kommentierung ihrer Privatperson sicher nicht verübeln. Denn zu ihren Stärken gehört nicht nur, gleich ob sie schreibt oder spricht, eine Präsenz, um die sie mancher Bühnenstar beneiden könnte, sondern auch, in geziemender Ergänzung zur manischen Kampfeslust, der Sportsgeist. Eigentlich selbstverständlich: Wer austeilt, und das tut Paglia weidlich, muß auch einstecken können.

Dinge, über die man sich grundsätzlich nur noch einvernehmlich äußern darf, das betrifft feministische Sozial- und Sexualpolitik oder Wissenschaft im Elfenbeinturm, wo selbstreferentiell Menschen und Meinungen so lange weich und karriereverträglich gewaschen werden, bis die Teilnahme am Konferenztourismus und eine mit ellenlangen Danksagungen gegen Kritik abgesicherte Publikation als das Nonplusultra des Erfolgs gelten: das sind die Zustände und Sachverhalte, die Paglia munter machen. Lang gewissermaßen gar nicht existent, sprudeln Kritik, Ratschläge und praktikabel anmutende Ideen zur Reform der höheren Bildung und Ausbildung um so zahlreicher aus dem Kopf dieses Neulings. Es wäre echt amerikanisch und entspräche ganz den positiven Vorstellungen, die Paglia von der westlichen Zivilisation im allgemeinen und von der amerikanischen Gesellschaft im besonderen hat, wenn sie nicht bloß medial vermarktet, sondern hie und da auch gehört würde.

Die Mißachtung der Lehre an den Universitäten zum Beispiel, die gern dem Nachwuchs aufgehalst wird, so daß die höheren Chargen Zeit haben, ihre Spezialitäten auszureizen – das macht in den Naturwissenschaften, aber nicht in den Geisteswissenschaften Sinn, die amerikanisch bekanntlich „humanities“ heißen.

Auf welchen Grundlagen, fragt Paglia, soll interdisziplinär, gar multikulturell gedacht, gelehrt und geforscht werden, wenn der Universitätsbetrieb sich bloß um immer mehr Schmalspurstudien wie Black Studies, Women's Studies oder auch Gender Studies erweitert?

Auch bei uns gibt es hie und da die diskussionswürdige Neigung, Frau bei Frau – auf Frau studieren zu lassen. Wo bleibt das Allgemeine, auch das allgemeine Beste, wenn idiosynkratisch operierende Lobbies und Fachidioten mit jeweils anhängender Klientel nur noch borniert ihre Claims abstecken, wie jeder, der Institutionen kennt, vorhersagen kann?

Es wäre aberwitzig, Studenten und vor allem Studentinnen das große Erbe vorzuenthalten, das die notorischen „toten weißen Männer“ hinterlassen haben. Um ein einheimisches Beispiel zu nehmen: Clara Viebig, bei allem Respekt, statt Franz Kafka? Mathilde Vaerting statt Max Weber?

Paglias großer Aufbruch – sie ist 1947 geboren – fand in den sechziger Jahren statt. Bei uns wäre sie also eine „Achtundsechzigerin“, aber eine, die ihre Lektion gelernt hat, wie sie betont. Politischer Illusionismus und eine beträchtliche Selbstdestruktivität haben die Bewegung damals auf Sand gesetzt. Paglia selbst hatte eine eskapistische Phase, die sie nach Osten zu Buddha führte, ehe sie dann doch die Überlegenheit der westlichen Zivilisation begriff und zurückkam. Ja, so traut sie sich das zu schreiben, und eigentlich hat sie ja recht.

Wo und wann waren Frauen so frei wie hier, hatten Waschmaschinen und einen gutsortierten Supermarkt um die Ecke, nebst dem Abitur in der Tasche oder doch dem Angebot, es auf dem zweiten Bildungsweg nachzuholen? Es muß wohl an den wollüstigen Opferszenarien liegen, mit denen frau seit Jahren verwöhnt worden ist, daß simple Einsichten, wie sie Paglia eine ganze Menge zu bieten hat, für so viel Aufregung bei den einen und so viel Erleichterung bei den anderen sorgen. Meine Erleichterung grenzt schon an Enthusiasmus, und ich behaupte, daß es Paglia gelungen ist, zeitgemäß versetzt, die Lehren, die uns Simone de Beauvoir 1949 erteilt hat, frisch aufzubereiten. Sie lauten: 1. Selbstkritik macht stark und 2. Feiheit ist unteilbar. Wer diese haben will, muß wissen, daß sie sich vom Leben im versicherten Feriencamp etwas unterscheidet... Notruffrauen in Stadt und Land, bitte herhören! Es ist eine Sache, ehrenamtlich karitativ tätig zu sein, eine andere, daraus eine Weltanschauung zu zimmern, in der jede Frau als, wie es so schön wie blödsinnig heißt, „potentielles Opfer“ vorkommt.

Ob Paglia Feministin, Anti- oder Post- oder sonstwas ist, vielleicht bloß eine Sternschnuppe am Medienhimmel, der schnell verglüht, was ich nicht hoffe – dieser Streit ist eigentlich müßig. Sie ist, abzüglich ihrer erstklassigen Performer-Qualitäten, nicht mehr und nicht weniger als eine no-nonsense- Person. Sie predigt den Common sense so großartig, wie es vor ihr Beauvoir getan und wie es nach ihr auch noch andere tun werden. Es lohnt sich durchaus darüber nachzudenken, warum Frauen mit Common sense so einen Knalleffekt machen können.

Paglia behauptet, daß das date rape-Problem an den amerikanischen Unis schlicht darauf zurückzuführen ist, daß verhätschelte Mädchen der weißen Mittel- und Oberschicht keinen Realitätskontakt haben. „Wenn eine Frau auf einer Fete sich so betrunken hat, daß sie sich nicht wehren kann, darf der Mann da, ohne sich schuldig zu machen...“ So oder so ähnlich lauten die Anfragen, die Paglia in der date rape-Debatte erreichen. Was antwortet sie? Sie sei seinerzeit im College um elf Uhr eingeschlossen worden, und gegen diese und andere Repressionen aus dem Geist des Kindergartens, wo Tante Elfriede mit vielen „Pfuis“ und „Ih-babas“ die Welt regierte, habe man doch wohl nicht umsonst rebelliert. Ist es vielleicht sogar so, daß das abenteuersüchtige Sexualverhalten mancher Männer, vieler Schwuler, seine Parallelen in den Wünschen und Praktiken von Frauen hat, die über die Soft-Sex- Träume und Ängste ihrer Backfischzeit denn doch einmal hinausgekommen sind? Claudia Gehrke wird es gern lesen, was Paglia dazu zu sagen hat. Andere werden ihre Kommentare zur Affäre um Anita Hill und Clarence Thomas und die Ereignisse auf dem Anwesen der Kennedys wieder einmal zum Anlaß tragischen Seufzens machen und vom back lash reden, den die feministischen Kämpferinnen pro bonum, contra malum haben erleiden müssen. Was ist eigentlich schief gelaufen, wenn eine 26jährige Absolventin der Rechtsfakultät von Yale nicht imstande ist, die Anmache ihres zehn Jahre älteren Vorgesetzten abzustellen, wenn sie ihr mißfällt? Und warum rückt sie erst nach so vielen Jahren mit ihren Anklagen heraus?

Ganz schlechte Zensuren bekommt auch Naomi Wolf, die 30 Jahre nach Betty Friedans „Weiblichkeitswahn“ und zahllosen anderen Appellen, frau möge sich doch endlich zu sich selbst und ihrer natürlichen Schönheit bekennen, erneut das Predigen anhebt, ohne daß ein neuer, geschweige richtiger Gedanke uns diesen Komplex verständlicher macht. Mit Paglias Theorie der „sexuellen Masken“, der Person als eines Kunstprodukts, das der isolierende „westliche Blick“ hervorgebracht hat, kommt man der Wirklichkeit der eitlen, putzsüchtigen und schönheitsdurstigen Normalfrau und ihren Absichten sehr viel näher. Anschauliche Proben dieser Theorie bieten ihre Anmerkungen zum Transvestitismus, zu den bewunderten drag queens und den großen Stars des Showbusineß'. Die dunkelhaarige Elizabeth Taylor, der jedes androgyne Element fehlt, erscheint ihr als eine Reinkarnation der „heidnischen Königin“ – Madonna auf der andern Seite als wahre Feministin, weil sie sich unaufhörlich chamäleonhaft verwandelt, nicht weiß, ob sie einen Sklaven sucht oder versklavt werden möchte, und so das Liebesdilemma der modernen Frau perfekt verkörpert.

Ist Paglia – eine weitere überflüssige, aber offenbar unvermeidliche Zuordnungsfrage – mit ihrem steten Beharren auf Lernen, Leistung und persönlicher Verantwortung den Neokonservativen zuzuordnen, vor denen sich linke, in Amerika liberal genannte Gemüter zu hüten und zu schützen haben? Sie selbst nennt sich einmal einen „maverick“, wohlerzogen übersetzt: einen Einzelgänger, direkter: ein Rind ohne Brandzeichen. Sie macht keine Dummheit, die nicht ganz und gar auf ihrem eigenen Mist gewachsen ist. Wie sie – um im Bild zu bleiben – auf Michel Foucault herumtrampelt, der das Subjekt in den unhintergehbaren Diskursen der Macht verflüssigt, ist doch zu grob gedacht. Hat Foucault in der stoischen Wendung von „Sexualität und Wahrheit“ nicht auch ein Plädoyer für den Common sense abgegeben, ohne den die kontrafaktische individuelle Existenz gar nicht zu leben ist?

Was Paglia, abgesehen von ihrem Temperament, von allen Konservativen, aber auch einem Großteil der Liberalen trennt und immer trennen wird, ist ihre Auffassung von der Popkultur, von Hollywood und MTV, von den Rolling Stones und Madonna, die sie als legitime Nachkommen der abendländischen Kunst begreift und entsprechend ernsthaft analysiert. Ein erstklassiger Aufsatz über Robert Mapplethorpe beweist, daß wir uns mit Paglia noch lange beschäftigen müssen. Rufen die einen nach dem Staatsanwalt, schreien die andern Zensur, Zensur! Erwartungsgemäß. Es muß etwas Drittes geben, das dem pornographischen Werk eines bemerkenswerten Künstlers gerecht wird, ohne es zu verbieten, aber auch, ohne es ästhetizistisch gesellschaftsfähig zu machen und damit unerträglich zu verharmlosen.

Unser sexuelles Schicksal artikuliert sich in E-Kunst und U-Kultur gleichermaßen. Pornographische Kunst unter Kunstvorbehalt an den Statthaltern der moralischen Korrektheit oder der Zensur vorbeizuschmuggeln, ist Selbstbetrug, Opportunismus.

Camille Paglia: „Der Krieg der Geschlechter – Sex, Kunst und Medienkult in den USA“. Byblos- Verlag, 38DM, erscheint im April.