Sterilisation im Namen des Volkes

Ein Gericht im US-Staat Tennessee stellte ein Ehepaar vor die Wahl: Zehn Jahre Haft für beide oder Sterilisation – der Frau/ Die Angeklagten hatten ihre Söhne sexuell mißhandelt  ■ Von Ingrid Schneider

Berlin (taz) – Bei der Urteilsverkündung stellte Richter Lynn Johnson vom Strafgericht in Johnson City im US-Bundesstaat Tennessee das Ehepaar vor eine drastische Alternative: Die beiden, zu zehn Jahren Haft verurteilt wegen sexueller Mißhandlung ihrer zwei Söhne, gingen entweder ins Gefängis – oder ihre Strafe würde zur Bewährung ausgesetzt. Bedingung: Die 26jährige Frau müsse sich binnen eines Monats sterilisieren lassen. Vom 33jährigen Ehemann forderte der Richter dies allerdings nicht. Die junge Frau stimmte der Sterilisierung zu.

„Wenn die Frau noch mehr Kinder bekommt, wird sie diese Kinder mit hoher Wahrscheinlichkeit auch mißhandeln, das war mir klar“, begründete der Richter in der New York Times sein Urteil. Die junge Frau, die Ende Januar ihr fünftes Kind zur Welt brachte, komme „aus einer sehr inzestuösen Familie“.

Bei Frauen- und Bürgerrechtsgruppen ist die Entscheidung des Richters auf heftige Kritik gestoßen. „Erstens handelt es sich um einen ganz klaren Fall von Frauendiskriminierung“, sagt Hedy Weinberg von der Amerikanischen Bürgerrechts-Union (ACLU) in Tennessee. „Und zweitens ist eine richterlich angeordnete Sterilisation generell nicht akzeptabel, auch wenn sie beiden als Wahlmöglichkeit angeboten worden wäre.“

Schließlich geht es nicht darum, ob die beiden noch mehr Kinder bekommen, sondern darum, ihre Kinder vor Mißhandlung zu schützen, argumentieren die KritikerInnen.

Nicht der erste Fall

Auch wenn es sich hier um das bisher krasseste Ereignis handelt, gab es doch bereits ähnliche Fälle, bei denen Richter sich anmaßten, Menschen die Fortpflanzungsfähigkeit zu entziehen: 1988 willigte die 30jährige Melody Baldwin, eine psychisch kranke Frau aus Indiana, im Rahmen eines gerichtlichen Vergleichs ein, sich sterilisieren zu lassen. Sie bekannte sich schuldig, ihren vierjährigen Sohn mit einer Überdosis Psychopharmaka – die ihr selbst verschrieben worden waren – getötet zu haben.

Im Januar 1991 verurteilte der kalifornische Richter Howard Broadman die 27jährige Darlene Johnson, weil sie zwei ihrer vier Kinder geschlagen hatte. Die schwarze Sozialhilfeempfängerin wurde zu einem Jahr Gefängnis und drei Jahren Bewährung verurteilt. Bedingung für die Bewährungsstrafe war, daß die Frau sich Norplant einsetzen ließ.

Norplant ist ein fünf Jahre lang wirkendes Verhütungsmittel, das in Kapseln unter die Haut des Oberarms eingepflanzt wird und von der Frau selbst nicht mehr entfernt werden kann. Es hat beträchtliche Nebenwirkungen und war zu diesem Zeitpunkt gerade erst von der US-Arzneimittelbehörde zugelassen worden. Johnson stimmte aus Angst, vier Jahre ins Gefängnis zu müssen, dem Urteil zunächst zu, obwohl sie noch nie zuvor von Norplant gehört hatte. Nach heftigen Protesten in der Öffentlichkeit ging der Fall in die Berufung. Im gleichen Jahr machte ein Richter im texanischen Austin bei einer weiteren Frau, die wegen Kindesmißhandlung verurteilt worden war, Norplant zur Auflage für eine Bewährungsstrafe. Weil sie Norplant nicht vertrug und unter Schädigungen litt, wurde das Implantat entfernt; die Frau ließ sich sterilisieren.

Hilfe für arme Frauen „sinnlos“

Bereits 1990 ist eine 17jährige Frau aus Florida wegen Totschlags zu zwei Jahren Gefängnis und zehn Jahren Bewährung verurteilt worden, mit der Auflage, während dieser Zeit Verhütungsmittel zu benutzen. Sie hatte ihre neugeborene Tochter im Badezimmer des Hospitals erstickt. Bedingung für dieses „milde“ Urteil war die Abmachung, nicht in Berufung zu gehen.

„Solche Urteile gibt es häufiger an Landgerichten. Sie werden nie revidiert, weil die Angeklagte froh ist, nicht im Gefängnis zu landen“, erklärte dazu Dr. George Annas, Direktor des Bereichs Medizinrecht und Ethik an der Medizinischen Hochschule in Boston.

Seit den Jahren der Reaganomics hat sich die soziale Lage von Unterschichtsfrauen – insbesondere Schwarzen und Hispanics – dramatisch verschlechtert. Während Sozialprogramme gestrichen wurden, wurden in der Republikaner-Ära Sexualaufklärung an vielen Schulen abgeschafft und die Abtreibungsmöglichkeiten eingeschränkt. „Es gibt eine wachsende Zahl von Leuten, die Sozialpolitik für arme Frauen für sinnlos halten. Sie meinen, solange wir nicht wissen, was wir mit Drogenabhängigen, HIV-Infizierten und KindesmißhandlerInnen tun sollen, sollten wir sie davon abhalten, Kinder zu kriegen“ berichtet Annas.

Bei Männern sind vergleichbare Fälle bei Sexualstraftätern dokumentiert. Der jüngste und spektakulärste spielte sich im März vergangenen Jahres im texanischen Houston ab. Der 28jährige Afroamerikaner Seven Allen Butler war angeklagt worden, ein 13jähriges Mädchen mehrfach schwer vergewaltigt zu haben. Der zuständige Richter entschied, die Anklage fallenzulassen, falls sich der – einschlägig vorbestrafte – Butler einer Kastration (Entfernung der Hoden) unterzöge. Er stimmte zunächst zu. Nach einer Protestkampagne von Schwarzen- und Bürgerrechtsgruppen gegen diesen Beschluß fand sich kein Arzt mehr, der bereit gewesen wäre, die Kastration durchzuführen. Der Angeklagte zog daraufhin seine Zustimmung zurück.

Rachel Pine, Mitarbeiterin des „Reproductive Freedom Project“, einer Organisation, die für freie Abtreibung und weibliche Selbstbestimmung eintritt, betont: „Die Bedingung, entweder Haftstrafe oder Einschränkung der Reproduktionsmöglichkeiten, stellt einen solchen inhärenten Zwang dar, daß man überhaupt nicht mehr von einer ,freiwilligen‘ Alternative sprechen kann.“

Ähnliche Urteile wurden, wenn sie in eine höhere Instanz gingen, immer aufgehoben. Denn bereits 1942 – in einer Zeit, in der in verschiedenen US-Bundesstaaten Tausende von „eugenischen Sterilisationen“ an Behinderten, psychisch Kranken“, „genetisch minderwertigen“ und „geistig minderbemittelten“ Männern und Frauen durchgeführt wurden – hat der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten festgestellt, daß das Recht auf Fortpflanzung zu den bürgerlichen Grundrechten gehört. Lynn Paltrow, Jurist am New Yorker Center for Reproductive Law and Policy, meint dazu: „Kindesmißhandlung und -mißbrauch sind schwerwiegende Probleme, aber sie haben ihre Ursache nicht in der Fähigkeit eines Menschen, sich fortzupflanzen.“