: Olympia nicht durch Erdbeben gefährdet
Auf 541 Seiten hat die Berliner Olympia-Bewerbungsschrift auf alle möglichen Fragen eine Antwort/ Leitgedanke ist eine Olympiade der kurzen Wege/ Entscheidung am 23. September ■ Von Dieter Rulff
Berlin. Dem damaligen Münchner Oberbürgermeister Jochen Vogel reichte 1966 noch eine vierzigseitige Broschüre, um das Internationale Olympische Komitee von seiner Heimatstadt als Austragungsort für die Spiele des Jahres 1972 zu überzeugen. Nur vage wurde darin die Idee einer Olympiade der kurzen Wege angedeutet. Mit diesem Leitgedanken gehen 27 Jahre später auch die Berliner Olympiaaspiranten hausieren, seine Konkretisierung füllt mittlerweile allerdings ein dreibändiges Werk mit 541 Seiten. Auf 25.000 französischen und gleich vielen englischen Textzeilen werden die Vorzüge Berlins als Austragungsort für die Spiele im Jahr 2000 referiert. So erfahren die IOC-Mitglieder, daß sie in der deutschen Hauptstadt weder mit einem Erdbeben noch mit einer Überschwemmung rechnen müssen und daß, sollte sich das Wetter an die langjährige Statistik halten, sie im Juli 2000 7,4 Stunden lang von der Sonne beschienen werden.
Die Schrift widmet sich auch der politischen Wetterlage. Dabei werden die Chancen der Grünen, im Jahr 2000 an die Macht zu kommen, genauso ausgelotet („eine Mehrheit für die Olympiagegner ist unmöglich“), wie auch dem als entscheidend erachteten Problem des Rechtsradikalismus in der Bundesrepublik ein schmaler Raum gewidmet wird. Hierbei kommen die Autoren zu dem Ergebnis, daß zur Zeit von diesen Gruppen keine Anzeichen einer Bedrohung für Olympiateilnehmer ausgingen, denn die Neonazis würden kein sonderliches Interesse an dem Thema zeigen. Auch mit der weiterhin existierenden RAF bestehe ein begrenzter Waffenstillstand, so daß von einer ruhigeren Phase der terroristischen Aktivitäten gesprochen werden könne. Die Zustimmung der Berliner zu den Spielen wird in der Schrift mit 60 Prozent angegeben und übersteigt damit die bislang in der Stadt kursierenden Zahlen.
Weit mehr als Klima und Politik werden die Olympiokraten vom IOC allerdings die Wettkampfstätten für die derzeit 25 olympischen Sportarten interessieren. Ihnen ist der Hauptteil der Bewerbungsschrift gewidmet. Zur besseren optischen Darstellung wurden mittels Computersimulationen die Hallen in die Berliner Stadtlandschaft projiziert, die in den nächsten Jahren erst errichtet werden. So wird dem Leser ein plastischer Eindruck von den Neubauten am Messegelände vermittelt, wo Badminton, Basketball, Fechten, Gewichtheben, Ringen, Volleyball und Tischtennis stattfinden sollen. Und er kann eine Vorstellung von den im Boden versenkten Hallen für Radsport und Schwimmen gewinnen, die auf dem Gelände der Werner-Seelenbinder-Halle errichtet werden. Auch die Olympiahalle des schwedischen SIAB-Konzerns wurde in die Prenzlauer-Berg- Landschaft montiert, obleich der Vertrag zwischen Senat und Investor über das Bauvorhaben noch nicht unterschrieben ist.
Insgesamt wurden 300 Landkarten, Feature-Bilder und Montagen erstellt, um einen augenfälligen Eindruck von den Spielen zu vermitteln. Allerdings enthält das Werk auch einige Mängel. So wird der ehemalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher fälschlicherweise als Mitglied des Aufsichtsrates der Olympia GmbH aufgeführt. Der Templiner See wird noch als Austragungsort der Ruderwettkämpfe genannt, obgleich sich der Internationale Fachverband bereits dagegen ausgesprochen hat. In einer Zusatzerklärung der Olympia GmbH wird allerdings Offenheit für Änderungswünsche signalisiert. Die Dressurreit-Wettbewerbe werden bereits auf dem Gelände des Neuen Palais in Potsdam angekündigt, obgleich der Hausherr, die Stiftung Schlösser und Gärten, bislang Ablehnung signalisiert hat.
Am umstrittensten dürfte jedoch die Finanzplanung sein, die dem IOC nun vorliegt. Sie weist, bei 3,2 Milliarden Mark Gesamtkosten, einen Gewinn von 190 Millionen Mark aus. Kritiker werfen den Olympiabetreibern vor, eine geschönte Rechnung vorzulegen, da eine ganze Reihe von Kosten, beispielsweise für die Olympiahallen, nicht in die Bilanz aufgenommen wurden. Diese Summen müssen folglich aus der Landeskasse aufgebracht werden.
Bereits Ende Januar ist ein Exemplar des sogenannten Bid-Buches dem IOC-Präsidenten Antonio Samaranch überreicht worden, versehen mit einer Nummer „1“ und in dessen Lieblingsfarbe Weiß gehalten. Er zeigte sich begeistert von der „perfekten Präsentation“. Weitere Exemplare des knapp 600 Mark teuren Werkes gingen dieser Tage an den Bundespräsidenten und den Bundeskanzler. Insgesamt wurden, nach Angaben von Olympia-Chefmanager Axel Nawrocki, „mehrere hunderttausend Mark“ in die Bewerbungsschrift investiert. Ob sie sich gelohnt haben, wird sich am 23. September in Monte Carlo erweisen. Noch vor einem halben Jahr war deren Bedeutung auch bei den Olympiabetreibern eher niedrig eingestuft worden. Nach Einschätzung des damaligen Olympia-Marketing- Chefs Nikolaus Fuchs beeinflusse es nur zu 10 Prozent die Entscheidung der IOC-Mitglieder. Fuchs' pessimistische Prognose damals: „Die lesen das gar nicht.“
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