Kann das Militär der Politik den Weg bereiten?

Streitgespräch zwischen dem Zagreber Philosophen Žarko Puhovski und dem Berliner Politologen Wolf-Dieter Narr zum Problem einer militärischen Intervention in Bosnien-Herzegowina  ■ Moderation: Thomas Schmid und Christian Semler

taz: In Bosnien-Herzegowina zeichnet sich kein Ende des Krieges ab. Es wird weiter getötet, vergewaltigt, „ethnisch gesäubert“. Menschen verhungern und erfrieren. Würden Sie eine militärische Intervention begrüßen?

Žarko Puhovski: In Bosnien ist eine Intervention bereits im Gange, eine Intervention der serbischen Truppen, in geringerem Maße auch der kroatischen Truppen. Bosnien wurde angegriffen. In diesem Sinn wäre jede internationale Intervention eine Gegenintervention. Über Monate hinweg wurden in Bosnien pro Stunde zwei Menschen getötet. Die Frage ist nun: Wie kann kann man erreichen, daß möglichst wenig Leute getötet werden? Führt eine Intervention zu einer Verringerung der sogenannten „killing rate“? Ich glaube ja, und deshalb bin ich für eine Intervention.

Und wie bitte soll die konkret aussehen?

Puhovski: Zunächst muß über diplomatischen Druck ein solider Waffenstillstand zwischen Kroaten und Muslimen in Bosnien durchgesetzt werden, um den Weg von der Adria in die muslimisch- kroatischen Gebiete Zentralbosniens zu sichern. Dann muß ein Ultimatum — sagen wir von drei Tagen — zur bedingungslosen Freigabe des Weges von der zentralbosnischen Stadt Kiseljak nach Sarajevo, das sind 23 Kilometer, gestellt werden. Das ist für die mindestens 250.000 Einwohner von Sarajevo eine Frage von Leben und Tod. Wenn das Ultimatum erfüllt wird, kann man eine Art Protektorat für Sarajevo einrichten, das heißt eine internationale Verwaltung für die Stadt. Das könnte dann auch auf andere Gebiete der Republik Bosnien-Herzegowina ausgeweitet werden. Wenn das Ultimatum mißachtet wird, muß man militärisch intervenieren, um die Blockade in diesem Teil zu durchbrechen. Das wäre ein Signal mit wahrscheinlich positiven Folgen.

Wolf-Dieter Narr: Auch ich bin der Ansicht, daß es darum geht, dafür zu sorgen, daß möglichst wenig Menschen zu Tode kommen. Wenn eine militärische Intervention einigermaßen Sicherheit böte, dieses Ziel zu erreichen, wäre ich, obgleich Pazifist, dafür. Doch ich glaube, dem ist nicht so. Die Frage nach militärischer Intervention muß konkret gestellt werden: Wer interveniert? Mit welchen Zielen? Wie soll die Intervention konkret aussehen? Welche Erfolgsaussichten hat sie? Ich behaupte, eine militärische Intervention kann gegenwärtig und auch in absehbarer Zukunft in keiner Weise dem Ziel dienen, kurzfristig und auch für eine voraussehbare mittlere Periode die Zahl der Kriegstoten zu vermindern. Eine Militärintervention ist in jeder Hinsicht konterproduktiv. Ich fürchte, daß sie nicht nur den Konflikt verlängern würde, sondern auch — nach Somalia — ein Beispiel mehr dafür abgäbe, wie künftig der ökonomisch überlegene Norden mit dem Süden (und hierzu müßte man dann die ex-jugoslawischen Länder hinzurechnen) umzugehen gedenkt, in einer Weise nämlich, die die Ungleichheit nicht abbaut, sondern verstärkt — und wenn möglich all dies unter dem Schutzschirm der UNO, die dann als Repräsentantin aller Nationen definitiv kaputt geht. Dieser Perspektive vorzuziehen wäre allemal, daß die potentiell auch militärisch intervenierenden Mächte politisch, ökonomisch, diplomatisch in einer Weise aktiv werden, die zu einer Veränderung der jetzigen Situation führen würde. Die Bundesrepublik könnte beispielsweise für Kriegsflüchtlinge aus Bosnien die Grenzen aufmachen, statt sie zu schließen, und vieles andere mehr.

Sie nehmen also zumindest erst mal in Kauf, daß weitere Leute sterben, in Sarajevo, Goražde, Srebrenica weiter Leute verhungern oder erfrieren. Würden Sie auch die militärisch Durchsetzung von Schutzzonen etwa für Sarajevo oder Bihać, das nur fünf Kilometer jenseits der UNO-Schutzzone in Kroatien liegt, ablehnen, Schutzzonen, wie sie für die Kurden im Norden Iraks eingerichtet wurden?

Narr: Ich sehe nicht, daß Interventionen militärischer Art das Ziel erreichen, das Sie durch Ihre Frage andeuten. Ich kann verstehen, daß angesichts des massiven Schreckens in Ex-Jugoslawien nun selbst Pazifisten nach Gewaltmitteln schreien. Ich glaube aber nicht, daß eine militärische Intervention dieses „punktuelle“ Ziel, die Rettung von rund 300.000 Menschen in Sarajevo, erreichen kann.

Warum nicht?

Narr: Da ginge es ja wie damals im Irak um einen „chirurgischen Eingriff“, der den Körper des „Patienten“ intakt läßt. Diese Operation ging schief, von ihren Kosten und Folgewirkungen ganz abgesehen. Die Anhänger dieses „sauberen“ Eingriffs träumen von einem technischen Gott, wie die deistischen Philosophen des 18. Jahrhunderts von einem Uhrmacher- Gott träumten, der ein kaputtes Schräubchen austauscht — und die Uhr geht wieder.

Sie sehen also kurzfristig keine Lösung, die zur Rettung bedrohter Leben führen könnte?

Narr: Keine militärische Lösung.

Herr Puhoski, sehen Sie nicht die Gefahr, daß eine Militärintervention die bisherige humanitäre Hilfe gefährden und die UNO-Truppen zu Geiseln der Kriegsparteien machen könnte?

Puhovski: Der Preis für den Frieden ist hoch, auch in Ex-Jugoslawien ist er nicht umsonst zu haben. Die Frage lautet deshalb einfach: Wie ist das Verhältnis zwischen Kosten und Nutzen?

Zu der Frage möglicher negativer Wirkungen einer Militärintervention. Mein erstes Gegenargument: Ich bin fast sicher, daß wir schon in wenigen Wochen einen neuen Krieg in Kroatien — in Slawonien oder in der Region Karlovac oder wo auch immer — haben werden, wenn die Intervention in Bosnien unterbleibt. Dafür gibt es einen objektiven Grund — ein Volk von vier Millionen kann nicht fast eine Million Flüchtlinge ernähren — und einen subjektiven: Die kroatische Regierung will beweisen, daß sie in der Lage ist, aus eigenen Kräften ihr Territorium zu befreien. Wenn das geschieht, ist die UNO-Mission binnen 48 Stunden gescheitert. Die Logistik der UNO in Bosnien ist so stark vom kroatischen Hinterland abhängig, daß ein Krieg in Kroatien die UNO in Bosnien handlungsunfähig machen würde.

Zweitens: Es geht mir um eine Kombination militärischer, politischer und humanitärer Intervention gesprochen. Ziel dieser kombinierten Aktionen müßte die Errichtung eines UNO-Protektorats über Bosnien-Herzegowina sein. Für mich ist es klar, daß in den nächsten Jahrzehnten Serben, Kroaten und Muslime in der Region nicht „normal“ miteinander leben können ohne eine übergeordnete Autorität, an die sie appellieren können. Eine solche Autorität hat übrigens in Bosnien-Herzegowina stets existiert: Das Osmanische Reich, Habsburg, Jugoslawien. Man braucht fremde Richter, fremde Polizisten, fremde Beamte. Auch in Kroation hat sich gezeigt: In dem Moment, wo Friedenstruppen der UNO eingesetzt wurden, brauchte man sie nicht mehr. Nötig wären Zivilbeamte gewesen, die die Vollmacht hätten haben müssen, als Schiedrichter zwischen Serben und Kroaten aufzutreten. Zusammengefaßt: ich bin für eine Militärintervention, die eine Zivilintervention nach sich ziehen muß.

Sehen sie nicht die Gefahr, daß Truppen der ex-jugoslawischen Bundesarmee eingreifen, wenn serbisch-bosnische Milizen in Kämpfe mit einer UNO-Streitmacht verwickelt werden?

Puhovski: Die Kämpfe bei Maslenica, wo vor kurzem erst kroatische Truppen von den Serben besetztes Gebiet Kroatiens angegriffen haben, waren eine Probe. Sie haben gezeigt, daß die Peace-keeping-forces der UNO weder den Aufmarsch der Kroaten noch den Gegenaufmarsch der Serben stoppen konnten. Sie konnten nicht einmal ihrer Aufgabe als Beobachter gerecht werden. Aber Maslenica verweist auf noch etwas weit Wichtigeres: ein stillschweigendes Einverständnis der Serben und Kroaten. Ihr, Serben, erlaubt bei der kroatischen Hafenstadt Zadar einen sicheren Korridor zwischen dem nördlichen und südlichen Dalmatien und wir, Kroaten, gestatten euch einen sicheren Korridor zwischen Banja Luka (Hauptort im vorwiegend serbisch besiedelten Nordwesten Bosniens, A.d.R.) und Belgrad. Meiner Meinung nach würde die ex-jugoslawische Bundesarmee infolge der Konvergenz der kroatischen und serbischen Interessen auch nicht eingreifen, wenn es um die Freigabe der Strasse von Kiseljak nach Sarajewo ginge. Ganz abgesehen davon, daß das serbisch-jugoslawische Militär in diesem Gebiet schwach ist und es große logistische Probleme gäbe.

Herr Narr, wenn Sie gegen die militärische Intervention sind, würden Sie dann wenigstens die Aufhebung des Waffenembargos gegen Bosnien befürworten? Immerhin ist Bosnien ein international anerkannter Staat und man kann ihm schlecht das Recht auf Selbstverteidigung absprechen?

Narr: Ich bin gegen die Aufhebung des Embargos. Sie wäre eine indirekte Form der militärischen Intervention. Ihr läge die Hoffnung auf eine militärische Lösung des Problems zugrunde — durch die dann besser bewaffneten Bosnier selbst, was eine Illusion ist. Als politisches Mittel, das alle Faktoren stabil hält und einen Erfolg auf Dauer verspricht, haben militärische Operationen dieser Art regelmässig versagt. Ich glaube nicht daran, daß Pläne funktionieren, bei denen die Militäroperation quasi die Vorhut bildet, die der eigentlichen Hauptmacht, den zivil- humanitären Mitteln, den Weg ebnet. Das genaue Gegenteil ist wahrscheinlich. Eine noch so symbolischer und noch so kurzfristig gedachter Militäreinsatz gefährdet jede Form von ziviler Politik in Ex- Jugoslawien.

Wir wären außerdem gut beraten, nicht nur von den Führungsgruppen der verschiedenen Völker der Region zu sprechen, sondern auch von denen, die da militärisch intervenieren sollen, bzw. wollen. Es sind keine Friedensgötter, von denen wir sprechen. Wären die Staatsmänner, um die es geht, wirklich so stark an der Verteidigung der Menschenrechte und der Humanität im ehemaligen Jugoslawien interessiert, sie hätten schon längst eine internationale diplomatisch-politisch-ökonomische „Front“ für eine friedliche Lösung aufgebaut — vor Beginn des Krieges. Waren die schweren Konflikte, die später zum Ausdruck kamen, nicht schon in den 80er Jahren virulent? Man ließ diese Konflikte sich akkumulieren wie in vielen anderen Teilen der Welt auch. Jetzt aber glaubt man, den Brand kurzfristig löschen zu können, um nach getaner Arbeit das Land wieder sich selbst zu überlassen. Man verschwendet keinen Gedanken daran, daß die Mittel und die langfristigen Kosten einer solchen Politik unkalkulierbar hoch sein werden. Ich spreche von Menschenkosten. Darüber wird es dann freilich keinen großen Pressewirbel geben.

Puhovski: Auch ich bin für die Aufrechterhaltung des Waffenembargos. Juristisch ist die Situation freilich schwierig, weil das Embargo ursprünglich gegen die Bundesregierung der Sozialistischen, Föderativen Republik gerichtet war, eine Adresse, die bekanntlich nicht mehr existiert. Aber für die Aufrechterhaltung des Embargos spricht einfach, daß es sonst noch mehr Kämpfe, noch mehr Tote gäbe. Wenn ich heute für die Aufhebung des Embargos spräche, müsste ich mir darüber im klaren sein, daß es nicht der Staat Bosnien-Herzegowina wäre, der in den Besitz der Waffen käme, sondern die Muslime. Und dies könnte ich nur verantworten, wenn ich glauben würde, die Muslime seien an sich bessere Leute als die Serben oder die Kroaten und daß sie auf jede blutige Revanche verzichten würden. Eben das kann ich nicht glauben.

Wären Sie, Herr Puhovski, für die Aufrechterhaltung des Waffenembargos auch dann, wenn eine militärische Intervention unterbliebe?

Puhovski: Ich werde dafür arbeiten, daß sie kommt. Für die Aufrechterhaltung des Waffenembargos spricht übrigens noch ein ganz praktischer Grund: Der Transport der Waffen würde durch kroatisch kontrolliertes Gebiet führen. Waffentransporte auf dem Luftweg aber wären nur mit den schweren, langsamen Transportmaschinen durchfürbar, die schon durch einfaches MG-Feuer verletzbar sind. Ich trete für eine politisch saubere Lösung ein, nicht, Herr Narr, für eine militärisch saubere. Die Nationalität der Opfer ist für mich unwichtig. Wenn zwei ausländische Soldaten sterben müssen oder alternativ fünf bosnische Muslime, bin ich für die ausländische Intervention. Zwei Opfer gegen fünf. Die von mir vorgeschlagene Operation würde ein Gebiet betreffen, das noch von allen drei Volksgruppen bewohnt wird. Sollte es tatsächlich notwendig sein, die Strasse von Kiseljak mit militärischer Gewalt offenzuhalten, so würden sich Aktionen der Interventionsstreitkräfte gegen jeden Angreifer richten. Von den politischen Zielvorstellungen her gesehen gibt es — ich wiederhole — nur eine Alternative: Entweder wird Bosnien-Herzegowina zwischen Serben und Kroaten aufgeteilt oder es wird eine UNO-Protektorat eingerichtet. Ich sehe keinen dritten Weg. Der Vance- Owen-Plan ist nicht durchfürbar.

Noch ein Wort zur Gefahr, daß die Intervention von den Betroffenen als Maßnahme des reichen Nordens gegen den armen Süden angesehen würde. Verzeihen Sie das Pathos, Herr Narr, aber in Sarajewo geht es nicht um Ideologien, sondern um Menschenleben. Generell ist zu sagen, daß Interventionen in Somalia und in Bosnien aus ein und derselben Notwendigkeit geboren werden: Es kann keine Souveränität für einen Staat geben, der nicht in der Lage ist, seine Bürger vor dem Untergang zu bewahren. Vor dem Hungertod oder vor dem Tod durch bewaffnete Aggressoren.

wie bei Thomas Hobbes nachzulesen...

Puhosvski: Ganz richtig. Ich riskiere einen Teil meiner Freiheit im Naturzustand, um in Sicherheit leben zu können.

Stimmen Sie, Herr Narr, mit der von Puhovski aufgestellten Alternative, Vance-Owen-Plan oder Aufteilung, überein?

Narr: Wenn der Protektoratsplan realistisch wäre, würde ich ihn unterstützen. Ich zweifle aber, ob die UNO angesichts eines gesellschaftlichen Konfliktbündels in Bosnien-Herzegowina, angesichts einer Situation, wo sich die Konfliktgegner tatsächlich nach dem Leben trachten, in der Lage ist, eine Art Ersatzstaat zu bilden. Die UNO kann nicht an die Stelle einer nicht vorhandenen staatsbürgerlichen Gesellschaft treten. Ein solcher Versuch würde auf eine Erziehungsdiktatur hinauslaufen, die scheitern muß, wie die Geschichte der vergangenen Jahrzehnte lehrt. Das, was im Moment mit dem Begriff der „civil society“ zu Tode geredet wird, kann eben nicht von oben verordnet werden. Im Zusammenhang mit der Diskussion um die UNO taucht ja — wie bei Thomas Hobbes schon — immer wieder diese Hoffnung auf, es gebe eine irdisch- außerirdische Macht, die immer dann eingreift, wenn etwas nicht funktioniert. Das ist gegenwärtig eine der größten Illusionen.

Was denn die Formel „zwei Tote gegen fünf Tote“ betrifft, bin ich mit Puhovski einverstanden. Doch ist dies in Bosnien-Herzegowina nicht die Situation. Das mag unmittelbar so erscheinen. Doch sobald man das mittelbar sieht, d.h. auch die potentiellen, wahrscheinlichen humanen Folgekosten dazurechnet, wird die Waage auf der andern Seite sinken, sodaß man einen militärischen Schlag, bei dem Menschen auf dem Altar einer nur erhofften friedlichen Zukunft geopfert werden, ablehnen muß. Wir gehören ja alle einer Generation an, die solche Opfer der Gegenwart für eine friedliche Zukunft nicht mehr haben will, die — um mit Merleau-Ponty zu sprechen — nicht mehr den Humanismus mit dem Terror der Aktualität anstreben will.

Was gibt Ihnen eigentlich die Gewißheit, daß nichtmilitärische Lösungen, vor allem wohl die Verschärfung des Embargo eine größere Erfolgschance haben als militärische — angesichts der Tatsache, daß in diesem Fall die Motive und die Interessen der Beteiligten genauso sinister sind? Wieso sollte also ein Embargo Erfolg haben?

Narr: Wir sind natürlich in einer beschissenen Situation. All die Mächte, die potentiell auch als militärische Interventionsmächte in Frage kämen, haben es versäumt, friedliche politische Wege überhaupt einzuschlagen, um den Konflikt entspannen zu helfen, ihn stillzustellen, um ihn dann auch lösen zu können, sodaß dabei eine lebbare Zukunft herauskommt. Aber deshalb dürfen wir doch jetzt nicht einfach sagen: Na ja, dann versuchen wir es halt militärisch.

Herr Puhovski hat klar gesagt, es gebe nur die Alternative zwischen einer Aufteilung Bosnien- Herzegowinas oder Protektorat. Der Vance-Owen-Plan habe keine Chance. Sehen Sie, Herr Narr, das auch so? Ein Protektorat halten Sie nicht für realistisch. Soll die Republik also aufgeteilt werden? Oder geben sie dem Vance-Owen- Plan eine Chance? Oder sehen Sie einen vierten Weg?

Narr: Der Vance-Owen-Plan vertritt im Kern einen ethnischen Purismus, der schon irreal ist, weil es keine puren Ethnien gibt. Aber heute in einer Welt, die so dynamisch auf Verbindung aus ist, in der kleine Einheiten nur überleben können, wenn sie sich auf höherer Ebene verbinden, kann nicht jeder Schrebergarten, jede Ethnie eine einen eigenen nationalen und staatlichen Weg einschlagen kann. Es müßte eine Föderation mit hochrangigen Minderheitsrechten geben, wobei jede Ethnie das Minderheitenrecht der anderen respektieren müßte — anders als es die heutige chauvinistische Führung Kroatiens gegenüber der serbischen Minderheit tut.

Puhovski: Es gibt nur zwei Optionen: intervenieren oder abwarten. Die Embargos haben nie funktioniert und funktionieren auch jetzt nicht. Moralisch ist es im übrigen nicht zu vertreten, ein Embargo gegen eine ganze Nation zu verhängen. Das sind kollektive Vergeltungsmaßnahmen. Ich kann eher die Bombardierung von Menschen in Bosnien rechtfertigen, die einander töten, als Schritte, die dazu führen, daß kleine Babies in Belgrad — und morgen vielleicht in Zagreb — keine Milch und alte Leute keine Kohlen oder kein Heizöl bekommen. Die Opfer von Embargo sind im betreffenden Staat dann immer die Minderheiten (es waren im Irak die Kurden, es sind in Serbien die Albaner) sowie die sehr alten und die sehr jungen Leute. Das ist moralisch nicht zu vertreten. Die Sanktionen sind ein moralischer Skandal. Das ist ein Sieg des Nationalismus: Ich bin schuldig, weil ich ein Serbe bin. Das kann ich nicht verstehen. Weshalb sind alle Leute in Belgrad schuldig?

Es geht in Bosnien-Herzegowina nicht darum, eine Erziehungsdiktatur zu installieren, sondern einige Vermittlungsgremien. Die meisten Leute leben jetzt innerhalb ihrer nationalen Gemeinschaft. Die Wahrheit in der Politik ist ja, was die Leute in der Politik als Wahrheit empfinden. Und sie empfinden, daß sie innerhalb ihrer nationalen Gemeinschaft leben und daß diese Gemeinschaft Vermittlung braucht. Insofern verstehe ich das Protektorat als eine Vermittlungsadministration. Ich bin natürlich sehr pessimistisch, ob die UNO imstande ist, das durchzusetzen. Doch es ist die einzige Chance, wenn man nicht mit der Aufteilung Bosnien-Herzegowinas den Krieg beenden will.

Eine Aufteilung würde also erst mal Frieden bringen?

Puhovski: Alle betrachten ja diesen Konflikt letztlich als einen serbisch-kroatischen, und die elegante Lösung dieses Konflikts ist eben die Aufteilung von Bosnien. Dann können beide Seiten sagen, sie hätten gesiegt. Als Schönheitsfehler bleiben dann drei Millionen Muslime. Im übrigen werden die Serben dann sich aus Kroatien zurückziehen und sogar bereit sein, Kosovo aufzuteilen: vier zu sechs, 40 Prozent für die Serben und 60 Prozent für die Albaner. Das ist also eine Lösung. Ich bin zwar gegen diese Lösung, aber sie ist eine realpolitisch machbare. Dann muß man eben mit dem muslimischen Terrorismus rechnen, zwei Tote pro Monat — etwa wie in Nordirland — statt zwei Tote pro Stunde wie jetzt. Diese Lösung kann man auch Europa verkaufen: Serben und Kroaten würden sich einmal mehr als diejenigen aufspielen, die Europa angeblich vor dem islamischen Fundamentalismus bewahrt haben. Serben und Kroaten besitzen zusammen mehr als 90 Prozent der Waffen, und wenn sie einen Waffenstillstand schließen wollen, dann gibt es einen Waffenstillstand. Wenn sie das nicht wollen, wird es zum Krieg in Kroatien kommen und wird der Krieg in Bosnien weitergehen. Also Aufteilung oder Protektorat. Alle anderen Optionen sind Optionen des Abwartens, das heißt, es werden dann sehr sehr viele Leute sterben.

Narr: Die militärische Option halte ich wirklich für falsch. Was das Embargo betrifft, sollten wir einmal nach Südafrika schauen. Wir haben ja lange gedacht, dort ende alles in einem großen Knall. Aber das Embargo, das ja von den Schwarzen verlangt wurde, hat ja durchaus einen Sinn gemacht. Und es hätte auch — anders durchgesetzt — im Fall Serbiens einen Sinn gehabt. Darüberhinaus gibt es noch ökonomische, soziale, diplomatische Mittel, über die wir heute nicht geredet haben. Zum Protektorat im Sinn einer Vermittlungsadministration, wie Herr Puhovski ausgeführt hat: Eine Vermittlunsadministration kann ja gerade nicht die Stärke haben, wie sie es müßte, um die Probleme zu lösen. Wenn man schon spekulieren will, dann lieber in Richtung eines Staatenbundes, der in den europäischen Rahmen eingebunden sein müßte. Dann wäre es eher möglich, in Ex-Jugoslawien zu einer Entspannung zu kommen.

Puhovski: Die Vermittlunglungsadministration soll keine Gesellschaftsfragen, sondern Gemeinschaftsfragen regeln. Als utopische Idee schwebt mir vor, daß als erstes ein Gerichtshof eingerichtet wird, der mit ausländischen Juroren besetzt wird und die Autorität für ganz Ex-Jugoslawien wäre. Gegen Emotionen hilft die Argumentation nichts, da helfen nur andere Emotionen, und das ist die Furcht vor einer Autorität. Europa ist eine Autorität. Und wenn man über Staatenbund spricht, dann eben nicht Hobbes, sondern Althusius, in dessen Plan auch Teile des Ganzen als Ganzes organisiert werden. Im Vance-Owen- Plan gibt es in den Provinzen keine Garantien für die Minderheit in den Provinzen selbst. Schon die Verfassung von 1974, dann die Versuche, die serbische Frage in Kroatien und auch in Bosnien zu lösen, beruhten auf der falschen Voraussetzung, daß man die Minderheitsfrage nur territorial lösen kann. Doch es geht nicht nur um die Rechte der Serben in Knin (Stadt in Kroatien mit serbischer Mehrheit, A.d.R.) )und der Kroaten in Zagreb, sondern vor allem um die Rechte der Kroaten in Knin und der Serben in Zagreb. Mit dem Vance-Owen-Plan bekommt man neun Bosnien statt ein Bosnien.