Alle Dinge haben ein Gedächtnis

„Tanjuschka und die 7 Teufel“ – Ein Film der Finnin Pirso Honkasalo im Forum  ■ Von Detlef Kuhlbrodt

Die Berlinale ist wie ein Fluß, der den Festivalbesucher hier- und dorthin treibt, und die schönsten Filme kommen wie das Glück grundsätzlich unerwartet und bezaubern das Herz. „Tanjuschka und die 7 Teufel“, der Dokumentarfilm der finnischen Regisseurin Pirso Honkasalo ist so ein Film. Wo man anfangs ein wenig gönnerhaft nur wegen des irgendwie loosermäßig klingenden Titels hineingegangen war, verläßt man das Kino taumelnd vor Glück und ein bißchen erschrocken, daß der Film schon zu Ende ist.

Tanjuschka ist ein zwölfjähriges Mädchen aus Weißrußland. Vor zwei Jahren hörte sie auf zu essen, dann sagte sie nichts mehr, dann hörte sie auch auf zu wachsen. Die Eltern unternehmen verschiedene Versuche, sie zu heilen. Sie reisen von einem Wunderdoktor zum nächsten, bringen sie nach Minsk in die Psychiatrie, wo man dem Kind Schizophrenie attestiert und es mit Medikamenten ruhiggestellt.

Schließlich suchen die verzweifelten Eltern Hilfe im fernen Estland; bei Vater Wassili, dem einzigen Priester der russisch-orthodoxen Kirche, der autorisiert ist, Exorzismen vorzunehmen. Die weltlichen Doktoren würden nur die Seele der Kranken zerstören, sagt er, und in Wahrheit sei Tanjuschka von sieben Teufeln besessen. Nur durch langwierige tägliche religiöse Zeremonien ließen sich die vertreiben. Ihr Vater zieht mit Tanjuschka in die autoritär-religiöse Gemeinde des Priesters, während die Mutter mit der jüngeren Schwester in Weißrussland bleiben.

Pirso Honkasalo begleitete Tanjuschka und ihre Familie ein Jahr mit ihrer Kamera. In langen, behutsamen – wenn sie auf dem verschlossenen Gesicht des Kindes verweilen – sehr zärtlichen Einstellungen erzählt die Finnin Tanjuschkas Geschichte. Sie läßt den Vater, die Mutter, eine Psychiaterin erzählen und sie beobachtet. Nicht nur die Dinge, die für den Bericht „wichtig“ sind – die Gesichter der Sprecher, die stundenlangen Gottesdienste oder den drohenden Gürtel des Vaters (der zuschlagen wird, wenn die Teufel im Kind wieder widerspenstig sind und sie sich nicht anzieht) – sondern unter anderem auch die Räume, die ihre Protagonisten umgeben: die Tapeten und die Schuhe, die so rührend ordentlich in einer Ecke des Raumes nebeneinander stehen, als hörten sie aufmerksam zu. Pirso Honkasalo nimmt die Dinge ernst und befragt sie. Alle Dinge haben ein Gedächtnis. Alle Dinge erinnern sich.

„Tanjuschka und die 7 Teufel“ ist vielleicht der schönste Film der Berlinale, und die Landschaften, die während einer Zugfahrt zwischen Weißrussland und Estland vorbeiziehen, sind von einer unbeschreiblich sehnsüchtigen Melancholie. Irgendwann einmal lacht das Kind und möchte Schokolade, und selbst die Zuschauer, die im Allgemeinen und zu Recht Kindergesichter in Filmen als blöde Kitschmetaphern ablehnen, sind kurz davor zu weinen. Vor Glück.

Pirso Honkasalo: „Tanjuschka ja 7 perkelettä“ (Tanjuschka und die 7 Teufel); Finnland/Schweden 1993; Kamera/Schnitt/Buch: Pirso Honkasalo. 80 Min.