Groningen macht das Umsteigen leicht

Der Verkehr und die Zerstörung der Stadt (14. Folge)/ Wo Berlin von Europa lernen kann: Im zonenaufgeteilten Groningen, wo Autos die weitesten Wege fahren müssen, sind Radler und Fußgänger am schnellsten  ■ Von Hans-Joachim Rieseberg

Die Niederlande haben immer noch die niedrigste Zahl an Verkehrsopfern in Europa, obwohl dort der Anteil des Fahrradverkehrs hoch ist. Wie in vielen anderen Ländern Europas nahm auch in den Niederlanden in den 50er und 60er Jahren der Automobilverkehr enorm zu. Autobahnen wurden gebaut, Ringstraßen, Erschließungsstraßen und Wohngebiete außerhalb der Anschlüsse an den öffentlichen Nahverkehr errichtet, kurz ein Verkehrsinfarkt wurde vorprogrammiert. Trotzdem konnte sich das Fahrrad in wesentlichen Teilbereichen behaupten und am Ende der 70er Jahre seine Vormachtstellung erneut zurückgewinnen. Man kann sagen, daß insgesamt die Niederlande heute mehr auf den öffentlichen Nahverkehr, auf die Eisenbahn und auf das Fahrrad setzen, mehr jedenfalls als auf das Automobil und den Ausbau des Straßennetzes. Viele Ringstraßenpläne in den großen Städten sind gestoppt, und zumindest immer mehr Innenstadtbereiche werden flächendeckend verkehrsberuhigt. Nach dem großen Verkehrskollaps in Amsterdam fand dort eine Wende statt, und durch eine Volksabstimmung wurde die Planung für eine autoarme und autofreie Innenstadt durchgesetzt.

Lösungssuche mit Leidensdruck

Das spektakulärste Beispiel dürfte aber nach wie vor die Stadt Groningen sein. Dort brachte erst ein gewisser Leidensdruck eine vernünftige Verkehrslösung hervor, denn die Zunahme der Bevölkerung und der Pendler aus der Provinz brachte in den 60er Jahren einen immer stärkeren Autoverkehr in die Innenstadt hinein. Als Antwort wurde wie fast überall der Plan für eine größere Zahl von Ringstraßen entwickelt, der jedoch schnell revidiert und bereits in den 70er Jahren von einer zukunftsweisenden, neuen Verkehrspolitik abgelöst wurde. Es ging zunächst darum, die Innenstadt Groningens mit ihrer Universität und dem Rathaus und einigen anderen kulturellen Einrichtungen zu retten. Diese Innenstadt kann als eine Art Insel angesehen werden, die durch 14 Brücken mit dem Festland der Stadt verbunden ist. Die Inselsituation entsteht aus dem erhaltenen alten Festungsgraben. Diese Altstadt hat heute etwa 17.000 Arbeitsplätze und 8.000 Bewohner. Sie ist zu Fuß und noch besser mit dem Fahrrad ohne weiteres zu durchqueren, wurde in den 50er Jahren aber durch zwei breite Boulevards durchquert und erschlossen. Das Straßengewirr der Altstadt hätte sich von vornherein als natürliche Form der Verkehrsberuhigung angeboten, wurde aber so nicht genutzt. Erst der große Plan des Jahres 1977, der in einer Nacht realisiert worden sein soll, nutzte die Chancen, die ein Straßengewirr bietet. Die Stadt wurde in vier Zonen aufgeteilt, die man mit dem Auto zwar einzeln anfahren kann, aber nicht von der einen in die andere Zone gelangt. Man muß vielmehr diese Zone verlassen, weiträumig nach außen fahren, um über eine Ringstraße sein Ziel zu erreichen. Dies bewirkte, daß die Kraftfahrzeugbenutzer sehr weite Wege zurücklegen müssen, um kurze Entfernungen zu überbrücken. Der Fußgänger selbst schafft diese Entfernungen in wesentlich kürzerer Zeit und der Fahrradfahrer in Minuten. Auf diese Weise wurde sinnfällig deutlich gemacht, daß die Geschwindigkeitsvorteile des Autos in dicht besiedelten Gebieten nicht vorhanden sind.

Durchgangsverkehr verbannt

Der Durchgangsverkehr wurde gänzlich aus der Innenstadt verbannt und die zwei großen, ehemals vierspurigen Durchgangsstraßen stehen ausschließlich Bussen zu Verfügung. Die Anlieger erhalten ein begrenztes Anliegerparkrecht, ansonsten wurden durch immer mehr Parkverbote die Straßen von den parkenden Autos befreit. Einer der wesentlichsten Effekte dieser Regelung war aber die Senkung der Geschwindigkeiten der Automobile in diesem Bereich und die Sicherung der Fahrbahnen für Fahrradfahrer. Groningen kann heute als Eldorado für Fahrradfahrer gelten. Dabei ist aber der Fahrradfahrer nicht auf Sonderspuren verwiesen, sondern ein fast dominierender Verkehrsteilnehmer. Einem Fremden kann es in den ersten Tagen angst und bange werden, mit welcher enorm hohen Geschwindigkeit die Groninger mit ihren Fahrrädern durch die Stadt fahren.

Man wundert sich zunächst, warum es so wenig Unfälle gibt und warum die Fußgänger dieses Verhalten, das in Berlin mit Sicherheit als rüpelhaft gelten würde, so gelassen hinnehmen. Die Erklärung ist relativ einfach. Die Fahrradfahrer fahren, und die Fußgänger gehen. Die Fahrradfahrer versuchen, im großen Bogen die Fußgänger zu umrunden, und die Fußgänger nehmen – so weit es geht – Rücksicht auf die Geschwindigkeit der Fahrradfahrer, weil sie wissen, daß sie vielleicht eine viertel oder halbe Stunde später selbst wieder die Geschwindigkeit des Fahrrades nutzen wollen. Es hat sich also eine neue, eine veränderte Verkehrskultur entwickelt. Der Langsamere nimmt freiwillig Rücksicht auf den Schnelleren, weil er weiß, daß dieses Verkehrsmittel Sinn macht.

Autofahrer steigen um

Um das Ganze zu untermauern, seien noch einige Zahlen genannt: 1976 gingen 17 % im Innenstadtbereich zu Fuß, 31 % fuhren mit dem Fahrrad, 17 % nutzen den Bus und 35 % das Auto. 1985 gingen 24 % zu Fuß, 36 % fuhren mit dem Fahrrad, 18 % benutzten den Bus und 22 % nutzten das Auto. Der Trend ist klar: Die Hauptumsteiger sind die individuellen Verkehrsteilnehmer. Sie steigen vom individuellen Verkehrssystem Auto auf das individuelle Verkehrssystem Fahrrad um. Die geringe Umsteigerquote zum Bus ist nicht weiter verwunderlich, weil, wie vielen Städten und Gemeinden, Groningen die Straßenbahn fehlt. Hier würden mit Sicherheit andere Zahlen erreicht, und der Autoverkehr wäre weiter zu reduzieren.

Im Städtevergleich nutzen bei dem Weg zur Arbeit in Groningen 46 % das Fahrrad, in Münster 25 % und in Kassel 5 %. Auch hier ist ein klarer Trend ersichtlich: In Städten, die fahrradtauglich sind, eine aktive Fahrradpolitik machen und die dafür landschaftlich prädestiniert sind, kann das Fahrrad eine fast dominierende Position als Individualverkehrsmittel erreichen. Das Ziel, eine mehr oder weniger autofreie Stadt zu schaffen und das Auto auf Sonderfunktionen zu reduzieren, ist mit dem Beispiel Groningen in erreichbare Dimensionen gelangt.

Stadt für Insider

Doch auch am Groninger Modell ist Kritik zu üben. Zum einen ist das Verkehrssystem für den Außenstehenden zu wenig erklärt. Nirgendwo am Stadtrand gibt es übersichtliche Informationssysteme, die dem Einreisenden erklären, was zu tun ist. Es ist eine Stadt für Insider – das hat Vor- und Nachteile. Groningen eilt inzwischen ein so guter Ruf voraus, daß beim Besuch der Stadt die Zahl der Kraftfahrzeuge zu Enttäuschungen Anlaß bietet. Man stellt sich vor, es wären noch weniger, und es könnten noch weniger sein, denn es ist zu bedenken, daß auch in Groningen aus dem Innenstadtbereich das Kraftfahrzeug nicht verbannt worden ist. Ein weiterer Kritikpunkt ist aus meiner Sicht die Isolierung des Versuchs auf die Innenstadt. Eine wirklich wirkungsvolle Politik kann nur gemacht werden, wenn eine gesamte Stadt – und das wäre bei Groningen mit 170.000 Einwohnern ohne weiteres möglich – in ein Beruhigungssystem eingeschlossen wird.

Das bedeutet nicht, daß man das Kraftfahrzeug gänzlich als Verkehrsmittel ausschließt, daß man ihm aber überall eine untergeordnete Rolle, einen untergeordneten Raum und eine abgesenkte Geschwindigkeit zuweist. In Groningen gibt es in den Außenbereichen der Stadt noch viel zu viele Autos, und dort ist viel zu wenig getan worden, um das Modell in adäquater Weise auf Neubauviertel zu übertragen. Und in Groningen fehlt für meine Begriffe ein wirklich wirksames öffentliches Nahverkehrssystem, das nicht auf der Grundlage Bus aufgebaut ist. Kurz, in Groningen fehlt die Stadtbahn und ein integriertes Stadtbahnsystem, das bis in die Innenstadt und in die City hinein eine vollflächige Versorgung mit öffentlichem Nahverkehr mit eigenen Trassen, mit starren, sicheren Taktzeiten, mit einem hohen Fahrkomfort, mit hoher Geschwindigkeit und mit einem guten Dienstleistungscharakter verbindet. All dies ermöglicht – und das erweist sich auch wieder einmal in Groningen – nicht der Bus, sondern nur die Straßenbahn.

Das Fahrrad allein reicht nicht

Wenn man als Fazit des Kapitels „Wie machen es die anderen?“ ein ideales Verkehrsplanungssystem in Europa als Musterbeispiel entwickeln wollte, so müßte man Elemente von Groningen, von Münster, von Bologna, von Zürich, von Freiburg und von Karlsruhe zusammenfassen und um einige wesentliche rechtliche Eckpunkte ergänzen. Man braucht ein gut ausgebautes Stadt- oder Straßenbahnsystem, eine aktive Fahrradpolitik, eine Übergangslösung, um vom Auto auf den öffentlichen Nahverkehr umzusteigen, die langsame Verbannung der stehenden Kraftfahrzeuge von den Straßen und die Absenkung der Geschwindigkeit in gemischt genutzten Straßen auf Fußgängergeschwindigkeit. Zerlegt werden müßten die großen Stadtgebiete in Teilbereiche, in Inseln und Zonen, die Umwandlung des öffentlichen Nahverkehrs in Dienstleistungsbetriebe, die eine aktive Kundenpolitik und Kundenwerbung betreiben.

Hinzu treten müßten marktgerechte Preise für das Abstellen der Kraftfahrzeuge, für die Genehmigung des Betriebs der Kraftfahrzeuge (Kfz-Steuer) und für die Nutzung des Betriebsstoffes (Mineralölsteuer). Ein weiterer wesentlicher Teil einer solchen Nahverkehrspolitik ist die intensive Aufklärung der Bevölkerung, die Erläuterung der Maßnahmen im einzelnen und die Volksabstimmung über grundlegende Veränderungen von Verkehrssystemen, um die Bewegungslosigkeit, die die Politik inzwischen erreicht hat, zu durchbrechen.

Bewegungslosigkeit durchbrechen

Der letzte Punkt scheint mir besonders wichtig, weil ich immer wieder die Erfahrungen gemacht habe, daß sowohl Behörden als auch Politiker vorgeben, bestimmte Maßnahmen machen zu wollen, aber davon ausgehen, daß die Bevölkerung diese Maßnahmen nicht akzeptiert. Sie praktizieren also die vorweggenommene Ablehnung von Verkehrsberuhigungsmaßnahmen. Sie geben also vor, sie seien für die Verlagerung des Kfz-Verkehrs auf den öffentlichen Verkehr, aber die Bevölkerung sei dagegen. Die Industrie- und Handelskammern stimmen regelmäßig das Lied von der Verödung der Innenstädte an, sie behaupten, die Umsätze in verkehrsberuhigten Bereichen würden rapide sinken, und sie befürchten massenweise Konkurse. Aber überall dort, wo Verkehrsberuhigungsmaßnahmen in vernünftiger Weise und mit der Bevölkerung abgestimmt durchgeführt wurden, beweisen die Zahlen das genaue Gegenteil: Die Umsätze steigen, die Innenstädte werden belebter und die Zersiedlung der Landschaft wird gestoppt.

Japanische Straßenbahnen?

Die einzigen, die solche grundsätzlichen Planungsveränderungen befürchten müssen, sind die großen Automobilfabriken, die im Falle dieser grundsätzlichen Änderungen mit einer harten Reduktion des Kfz-Bestandes und -Absatzes rechnen müssen. In diesem Falle würde in Deutschland nur noch ein Automobilkonzern übrig bleiben, was auch im europäischen Maßstab völlig ausreichen würde. Die Arbeitsplätze, die dadurch verlorengehen – und sie werden zwangsläufig entweder durch die Konkurrenz der Japaner oder durch eine Veränderung im Verkehrsgeschehen verlorengehen –, könnten in neuen Produktbereichen entstehen: öffentlicher Nahverkehr oder Veränderungen der Siedlungsstruktur. Aber warten wir doch auf die nächste große Krise – oder müssen wir, wenn die deutsche Industrie uns weiterhin so wenig moderne Straßenbahnwaggons baut, diese dann auch noch von den Japanern kaufen?

Diplom-Ingenieur Hans-Joachim Rieseberg beschäftigt sich mit Architektur, Stadt- und Verkehrsplanung und ist Autor mehrerer Bücher über unsere zerstörerische Lebensweise; kürzlich erschien „Arbeit bis zum Untergang“ im Raben-Verlag.

Die letzte Folge erscheint am Montag kommender Woche.