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Äußerst vitales Holz aus Wagga Wagga

■ Die Rosenbergs - eine australische Musikerdynastie / Ein Buch - die neueste Violinen-Kunst betreffend

Violinisten aller Völker, aufgehorcht! Euer Instrument, vor zweihundert Jahren in seiner Entwicklung erstarrt, ins Orchester gepfercht und in der täglichen Praxis geknechtet, hat einen Weg zur Freiheit gefunden – durch radikale Erweiterung seiner Mittel und Zwecke. Bereits seit einem halben Dezennium verbreitert sich der Anwendungsbereich über die reine Musik hinaus in immer entlegenere Winkel menschlichen Forschens und Wissens. Nur hat dies bis heute kaum ein Geiger wahrgenommen. Doch seit die jüngste Generation der legendären Rosenbergs, einer australischen Musikerdynastie, die im vierzehnten Jahrhundert wurzelt, in die Blüte ihres Schaffens geraten, ist da kein Feld mehr, auf welchem die wahre Kunst modernen Violinspiels nicht ihre verborgenen Früchte trüge. Bloß: Wenn diese hoffnungsvollen Sprosse vom intoleranten Musikbetrieb überhaupt zur Kenntnis genommen wurden, so sahen sie sich geschmäht und verhöhnt von einer korrupten Kulturindustrie, die einzig um Vorteil und Geschäft mit der geknebelten Hörerschaft besorgt sich zeigt.

Allerdings haben seit je, so gering ihre Zahl auch ist, sich hellsichtige Journalisten, Musikwissenschaftler, Historiker und Archivare zu Wort gemeldet, um von den Entdeckungen, Erfindungen und bewunderungswürdigen Fähigkeiten der Rosenbergs zu berichten. Eine Auswahl der Zeugnisse und Dokumente liegt nun vor. Jedermann wird wohl sein Bild von der Musikgeschichte revidieren müssen.

Zwei Warnungen seien unseren Erörterungen vorausgeschickt: das Buch ist zur Gänze in Englisch geschrieben, dessen klare und bilderreiche Sprache aber selbst einen Quintaner nicht zaudern lassen wird. Und: Die historische Faktizität ist in nicht allen Punkten gewährleistet – ein eher quellenkritisches Problem.

„Letztes Jahr“, so war es in der Musikalischen Zeitung vom 1. Februar 1989 zu lesen, „wurde in der Männertoilette eines bekannten Berliner Bahnhofs von der morgendlichen Reinigungstruppe ein in braunes Papier gewickeltes Päckchen gefunden. Die nähere Untersuchung zeigte, daß es ein musikalisches Manuskript enthielt, was festzustellen allerdings eine Weile dauerte, denn der größte Teil der Partitur schien aus willkürlichen Zahlen und Instruktionen zu bestehen.“ Es war, so stellte sich heraus, nichts Geringeres als das seit 1952 verschollen geglaubte „Violin Konzert“ von Johannes Rosenberg. Daß es nie aufgeführt wurde, ist ebenso bedauerlich wie verständlich, allzu weit entfernte sich Rosenberg nicht nur von der gängigen Aufführungspraxis, sondern überschritt das damals technisch Machbare. Erst heutige Computertechnologie kann ermöglichen, die in der Berliner U- Bahn-Linie 9 reisenden Orchestergruppen zu lokalisieren und zu koordinieren – eins der vielen bis dato ungelösten Probleme, die dieses Werk stellt. Auf die Rolle der Unified Music Relativity Theory, auf der das Violinkonzert basiert, können wir hier nur hinweisen, die Mahlzeit, eine Lektüre des Buches, wird sich jeder selbst bereiten müssen.

Aus welch vitalem Holz dieser 1921 in Wagga Wagga (Australien) geborene Komponist und Geigenvirtuose geschnitzt ist, zeigen seine Rekorde. 1959 bestieg er als erster Violinist überhaupt den Mt. Everest. Bereits 1953 hatte er den Rekord in der Disziplin detaché (ein Bogenstrich je Note) von 960 Strichen pro Minute (Heifitz 1934) um 40 weitere überboten – ein eindrückliches Beispiel für den engen Zusammenhang von Sport und Musik.

Den Horizont seiner innovativen Aktivitäten läßt ein Bericht über das „Rosenberg Museum“ in Berlin erahnen. Hier sind Skizzen, Modelle und Prototypen vieler seiner instrumentenbaulichen Novitäten, wie zum Beispiel die triple neck, double piston, wheeling violin, einer Art rollender Wandergeige, die er für das Stück „4 Kilometres; 33 Metres“ (1941) eigens entwickelt hatte. Eine biographische Begebenheit knüpft sich an das „19 string violoncello“. Sie spielte sich 1971 am Checkpoint Charlie ab, wie der Tribune berichtete. Rosenberg, der 1956 in die DDR emigrierte (not very fashionable at the time), war auf dem Weg zu einem Konzert in den Westteil der Stadt, als er in eine der gefürchteten verschärften Grenzkontrollen geriet. „Das ist kein Cello“ befand ein Vopo angesichts des Inhalts von Rosenbergs Instrumentenkasten und stürzte ihn so in eine der eindringlichsten Erzählungen neuerer Musikerliteratur. Versenken wir uns in einen Augenblick des tristen Geschehens: „,Packen Sie es ein. Warten Sie da.‘ After he has packed the cello up in it's case, Rosenberg looks at the Deutsche Reichsbahn poster showing a sunny, almost mythical landscape from the district of Turingia. It's cold in here, he realises. The only other visual stimulant in the room is a sign – it says ,Nicht Rauchen!‘ Nothing to be done. The minutes tick by ...“

Jo „Doc“ Rosenberg, ein Bruder des angeführten Virtuosen, nahm einen etwas anderen Weg zur Halle des Ruhms. Bekannt geworden ist er durch die „Boo Theory“, eine Erweiterung und Verfeinerung der Mnemotechnik australischer Aboriginals. Durch gedankliche Zuordnung einer musikalischen Phrase mit dem exponierten Element einer Landschaft– in der australischen Wüsten bieten sich Steine diesem Zwecke an – wird es dem Gedächtnis möglich, Hunderttausende verschiedener Melodiefloskeln zu erinnern. Der künstlerische Zugewinn liegt auf der Hand: durch Synergie von visueller und akustischer Intelligenz eröffnet sich dem Musiker ein Pool musikalischer Ausdrucksmittel, der ans Unendliche grenzt.

Ein Blindfold-Test des Downbeat weist ihn nicht nur als intinmen Kenner des australischen Jazz und dessen Geschichte aus (die er jahrzehntelang mitgeformt hat), sondern auch als Kritiker der internationalen Musikindustrie und deren Verflechtungen.

Die Rekonstruktion der Musikerdynastie der Rosenbergs, deren wohl exponierteste Vertreter Dr. Johannes Rosenberg und Jo „Doc“ Rosenberg sind, wurde von Jon Rose, der, wie man hört, auch Violinist und Erfinder musikalischen Geräts ist und ebenfalls aus Australien herstammt (ist er nicht zufällig auch Doktor?), geleistet. Wie bei allem, sollte man auch hier nicht vergessen, das Kleingedruckte zu lesen. Ganz hinten im Buch, ganz klein. F.H. vom Doppelberge

Jon Rose: „The pink violin“. NMA Publications, Melbourne 1992

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