Kleine Glückssplitter und Steine im Schuh

Liebessehnsüchtige Filmhelden und junge Regisseure: Das japanische Kino auf der Berlinale war sympathisch unspektakulär  ■ Von Detlef Kuhlbrodt

Das schönste Filmland ist Japan. Aber: „Eine ökonomische oder kulturpolitische Erklärung für die Blüte des jungen japanischen Films ist schwer zu geben“, denn „in Japan gibt es kein Förderungssystem für Filme wie in Deutschland oder anderen europäischen Ländern“. So „muß man den Reichtum der japanischen Filmszene wesentlich auf die schöpferische Kraft und Energie der Autoren und Regisseure zurückführen“. Schreibt Ulrich Gregor.

Ein anderer Grund, weshalb einem viele Helden der jungen japanischen Filme so gut gefallen, ist so simpel, daß er einem leicht entgeht: Es ist die Jugend der Protagonisten und Regisseure. Wo die „jungen“ deutschen FilmerInnen und ihre Helden im Allgemeinen zwischen 40 und 50 sind, sind sie in Japan selten älter als 35. Inagi Atsushi, der im letzten Jahr von „der Einsamkeit, Freunde zu haben“, erzählte, war 22, als er seinen Film drehte; George Matsuoka, der Regisseur von „Twinkle“ ist gar erst – laut Programm jedenfalls – 12.

Daß der junge japanische Film soviel frischer als sein westliches Pendant wirkt, mag aber auch gesellschaftliche Ursachen haben: Wo der jugendliche Westler in einem unverbindlichen Zwischenreich zwischen 20 und 30 (nicht mehr in der Schule, noch nicht im Beruf) auf sich gestellt und einsam nach Orientierung sucht (oder sich, wie Christoph Schlingensieff, mit den ästhetisch schon etwas angestaubten Tabubruchskategorien der sechziger Jahre zu profilieren versucht), reiben sich die Protagonisten junger japanischer Filme meist gruppenweise an den Normen der Gesellschaft.

Während die berufsjugendlichen Westler wortkarg und narzistisch auf Brücken ihren Jungsphantasien hinterherhängen, sich autistisch als „Szene“-Trottel gefallen, in Kitschphantasiewelten abdriften oder traurig und sprachlos der Welt schon immer verlorengegangen sind, agieren die jungen japanischen Helden der letzten Jahre oft zwischen den Anforderungen der gesellschaftlichen Institutionen – Eltern, Universität oder Beruf – und ihren eigenen Bedürfnisen. Viele japanische Regisseure verweigern sich dabei der inhaltlichen oder stilistischen Festlegung. So wartete der „Akira“-Regisseur Katsuhiro Otomo zum Beispiel im letzten Jahr mit einem sehr schönen Film auf („World Appartment Horror“), der den japanischen Rassismus thematisierte.

Es mag Zufall sein, aber auffällig war in diesem Jahr, daß gleich drei japanische Filme ein ähnliches Thema behandelten. Sowohl in dem herausragenden Panoramafilm „Okoge“ von Takehiro Nakajima als auch in den nicht nicht weniger großartigen Forumsfilmen „Twinkle“ (George Matuoka) und „Das leichte Fieber eines Zwanzigjährigen“ (Ryosuke Hashiguchi) geht es um sexuelle Orientierungen, genauer, um's Schwulsein.

Im Gegensatz jedoch zu den westlichen Variationen des Liebesthemas, in denen es letztlich um nichts anderes als um Besitz oder individuellen Konsum geht, suchen die jungen japanischen Helden nach Kommunikation und einem Glück jenseits der Warenbeziehungen. Vielleicht, um den Gegensatz zwischen einem entfremdeten Warengenuß – den nicht nur der französische Leidenschaftsthriller „Wilde Nächte“ von Cyril Collard aufs Unerträglichste feiert – und der Liebe jenseits des Besitzes zu betonen, arbeiten die liebessehnsüchtigen japanischen Filmhelden der letzten Jahre häufig als weibliche oder männliche Prostituierte.

„Das leichte Fieber eines Zwanzigjährigen“ und der klassisch gehaltene japanische Wettbewerbsstreifen „Sehnsucht“ waren in diesem, der seltsam stille Forumsfilm „Der März kommt wie ein Löwe“ (Hitoshi Yazaki), der merkwürdig Erotikthriller „Tokyo Decadence Topas“ und die im Pornomilieu angesiedelte „Skinless Night“ (Rokurro Mochizuki) in den letzten Jahren Beispiele für japanische Filme, deren Protagonisten ihr Glück sicher auch körperlich, doch in erster Linie jenseits der Sexualität suchen. In einem Land, das mit der alljährlichen Produktion von 4.700 Pornovideos durchaus zur Weltspitze gehören dürfte, läßt sich „im Reich der Sinne“ keine Erfüllung mehr finden.

So sind die Sexszenen, wenn sie noch auftauchen, sympathisch unspektakulär. Kleine Glückssplitter blitzen jenseits sexueller Erfüllungsversuche auf; eher als Andeutung denn als Erfüllung. In der Sympathie behutsamer Gesten zum Beispiel: Wenn das Mädchen im „Leichten Fieber“ so tut, als habe sie einen Stein im Schuh, um sich bei dem Jungen, mit dem sie ausgeht, anzulehnen.

Eher klassisch-theatralisch, in manchmal schon zu schönen, ins Künstliche spielenden Monochrombildern, erzählt der japanische Wettbewerbsfilm „Sehnsucht“ (Tamasaburo Bando) seine Geschichte, die in einem Tokyoer Jahrhundertwende-Bordell spielt. Während die Bilder in dem stilistisch perfekt gedrehten Wettbewerbsbeitrag manchmal in Gefahr sind, ins Kunstgewerblich-Unverbindliche abzugleiten, begeisterte der Forumsfilm „The Room“, der ebenfalls auf klassische japanische Muster zurückgriff, durch Intensität.

In diesem buddhistischen U- Bahnmovie dominiert, was Benjamin „ausdruckslose“ Stille genannt hat. Erklärt wird nichts, die Wörter, die fallen, lassen sich an zwei Händen abzählen. Ein Mann (Akaji Maro) sucht ein Zimmer. Mit monoton hervorgestoßenen Worten erklärt er einer jungen Maklerin (Yoriko Doguchi) seine Wünsche: „Ein Zimmer, klein, aber gemütlich, mit einem Fenster, das den Blick in die Ferne schweifen läßt und dessen Ausblick nicht durch Hochhäuser verdeckt wird. ein Zimmer, in das sich Frühlingswinde verlieren, helles Sonnenlicht am Mittag hineinflutet, und das erfüllt ist von Blumenduft. Wo man sich zufrieden fühlt und wo sich mit Anbruch der Dunkelheit eine unendliche Stille ausbreitet.“

Zusammen und in einem kargen Schwarz-Weiß begeben sich die beiden auf die Suche. Unbewegt und unendlich lange dauern die U-Bahnfahrten; unbewegt und schweigend stehen sie an der Tür. Tokyoer Stadtlandschaften wischen hinter dem Fenster vorbei. Eine Zeitlang sitzt man und wartet auf die nächste Einstellung. Dann beginnt man zu kichern oder zu meckern. Diejenigen, die an amerikanisches Kinotempo gewöhnt sind, verlassen den Saal. Die meisten bleiben, denn man kann die Bilder auch so lange anschauen, bis sie zurückgucken.

Wenn während der U- Bahnfahrten Tunnellichter grell vorbeiflitzen, bewahrt die Netzhaut die Erinnerung an das Licht einen Moment länger als die vergeßliche Leinwand. Nichts passiert. Eigentlich. Alles passiert. Der Mann ist ein Mörder. „Du mordest zuviel“, sagt ihm sein uralter Mörderkollege in einer seltsam somnambulen Sequenz, die so wirkt, als wäre sie durch einen sehr alten Spiegel aufgenommen. Unendlich langsam trinkt der Mann einen Kaffee. Am Ende findet der Mörder irgendwo in einer Bauruine seinen perfekten Raum und die großartigste Aussicht. Er setzt sich auf einen Stuhl und erschießt sich. Das Bild bleibt eine Weile noch stehen. Alte Gardinen bewegen sich im Wind.

Wenn er Romeo und Julia verfilmen würde, würde er vielleicht nur eine einzige Einstellung nehmen, „die Bettszene“, sagt Sion Sono; und: „Schauspieler sollen nicht schauspielern – sie sollen so spielen wie z.B. das Skelett eines Dinsoauriers“.