Die letzten Lebenden von Luena

Weitab im Hochland von Angola wird eine Stadt mit 70.000 Menschen seit sechs Wochen von den Unita-Rebellen belagert/ Ausharren im Kessel unter Dauerbeschuß/ Gefahr von Epidemien  ■ Aus Luena Willi Germund

Mit beiden Fäusten preßt Nicolina Soy die Wolldecke unter ihr Kinn. Tapfer schüttelt das Mädchen den Kopf: Nein, Schmerzen habe sie nicht. Ihr gebrochener linker Oberschenkel ist dick angeschwollen, das Bein steckt in einem notdürftigen Streckverband. Am 10. Januar wurde das zwölfjährige Mädchen in ihrem Wohnviertel am Stadtrand von einem Querschläger getroffen.

„Wir konnten sie erst vorgestern ins Krankenhaus bringen“, erzählt der Vater – 45 Tage später. Wegen der confusao, der „Konfusion“ – den Auseinandersetzungen zwischen der angolanischen Rebellenbewegung Unita und den Truppen der Regierung – sei es unmöglich gewesen, aus dem Vorort die paar Kilometer zum Krankenhaus im Zentrum der Stadt zu kommen und Behandlung zu suchen.

Dem Mechaniker mag das bräunliche Gebäude ohne Fensterscheiben und voller rostiger Betten als Rettung für seine Tochter erscheinen. Aber die Sanitäter im Militärhospital können Nicolina Soy wohl auch nicht viel helfen. Als am 10. Januar hier, wie in vielen Städten Angolas, Kämpfe zwischen Regierungssoldaten und Unita-Kämpfern ausbrachen, gehörten die Ärzte zu den ersten, die flohen. Das Zivilkrankenhaus am Stadtrand steht leer – es wäre zu leicht von der Artillerie zu erreichen, mit der die Unita die Stadt regelmäßig ab 2 Uhr nachmittags belegt.

In der Apotheke des Militärkrankenhauses stapeln sich ein paar Kisten mit Verbänden. Ein halbes Dutzend Kisten mit schmerzstillenden Tabletten, ein paar Beutel mit Glukose – mehr Medikamente gibt es nicht. Selbst die Betäubungsmittel sind ausgegangen. Um die hundert Patienten, Zivilisten und Soldaten, liegen in dem heruntergekommenen Bau. „Wir haben auch große Probleme mit dem Essen für die Patienten“, sagt Sanitäter Caytano Felgas, mit 27 Jahren Leiter des Krankenhauses.

Hunger wurde auch der 32jährigen Laurena Domingos zum Verhängnis, der vor wenigen Tagen ein Bein amputiert werden mußte. Sie hatte am Stadtrand nach eßbaren Wurzeln gesucht und trat auf eine Landmine.

Flüchtlinge kampieren unter Platanen

Luena, 800 Kilometer südöstlich von Angolas Hauptstadt Luanda im Hochland gelegen, ist seit dem 10. Januar auf dem Landweg von der Außenwelt abgeschnitten. Einst war die etwa 70.000 Einwohner zählende Hauptstadt der Provinz Moxico ein verschlafenes Nest. In der Ortsmitte säumen weitausladende Platanen breite Straßen. Heute hocken darunter, wohin man blickt, Menschen neben kleinen Feuerstellen. Insgesamt müssen es Tausende sein. Sobald der nachmittägliche Artilleriebeschuß beginnt, suchen sie Schutz in den Häusern. Es sind die Bewohner der Viertel am Stadtrand, die ins Zentrum geflohen sind.

„Die Lage hier ist äußerst dramatisch“, erklärt Pater José Manuel Imbamba, der örtliche Leiter des katholischen Hilfswerks Caritas. Seine Sorgen gelten nicht nur der Ernährungssituation: „Wir fürchten, daß wegen der sanitären Lage Epidemien ausbrechen könnten.“

„Wir haben 2.336 Leute bei uns“, erklärt mit buchhalterischer Genauigkeit der Verwalter von Luenas einzigem Hotel, einem Gebäude mit 75 Zimmern. Mit ein paar Dutzend Ampullen voller Impfstoff will ein Krankenpfleger hier eine mögliche Epidemie verhindern. Auch auf den Fluren der nebenan liegenden Bankfiliale kampieren Obdachlose mit ihren paar Decken und zerbeulten Blechtöpfen. Selbst im Garten des zerschossenen Erzbistumssitzes lagern Vertriebene. Die Wände des bischöflichen Arbeitszimmers sind mit dicken Lehmziegeln zusätzlich verstärkt worden.

Schon jetzt grassiert Durchfall – angesichts der zunehmenden Unterernährung in Luena eine lebensgefährliche Krankheit. Auf dem Markt der Stadt werden die wenigen Lebensmittel nur noch büchsenweise angeboten. Ein Kilo Bohnen kostet 130.000 Kwanzas (etwa 13 US-Dollar). Vor drei Monaten war ein Zentner noch für 105.000 Kwanzas zu haben. Zwei Hilfsflüge des UNO-Welternährungsprogramms (WFP) wurden Anfang Februar schon am Flughafen von verzweifelten Menschen geplündert. Die ersten Anzeichen einer Hungersnot sind unübersehbar. Pater Imbamba: „Es sterben viele Menschen. Wie viele, das wissen wir einfach nicht.“

Hilfe kommt nur tröpfchenweise nach Luena. Nicht einmal die angolanische Luftwaffe fliegt die Stadt an – aus Furcht, in das Abwehrfeuer der Unita zu geraten. Die Vereinten Nationen haben Flugzeuge und Piloten der russischen Fluggesellschaft Aeroflot gechartert. Deren Flugkapitäne haben Kriegserfahrung aus Afghanistan. Aber auch sie wagen sich nur unter größten Vorsichtsmaßnahmen in die umkämpfte Stadt.

Verteidiger im Kessel, Guerilla im Schützengraben

So schraubt Wjatscheslaw Radontschew seine viermotorige Antonow 12 mit atemberaubendem Sinkflug in engen Schleifen von 7.500 Meter Höhe auf die schwerbewachte Landebahn von Luena. Finster blickende schwerbewaffnete Polizisten in dunkelblauen Uniformen sperren den Flughafen ab. Die in Angola als Ninjas bekannten Mitglieder der landesweit 30.000köpfigen Elitepolizei bilden das Rückgrat der Verteidigung im Kessel von Luena. Gemeinsam mit bewaffneten Zivilisten gingen sie am 10. Januar – wie auch in anderen Landesteilen – gegen Unita- Anhänger vor. Die oppositionelle Gruppierung unter Führung von Jonas Savimbi hatte ihre Wahlniederlage im September des letzten Jahres nicht anerkannt. Nachdem alle Verhandlungen nichts fruchteten und die Unita Zug um Zug rund 70 Prozent des Landes besetzte, hatte die Regierung Anfang Januar zur Offensive geblasen.

In Luena gruben sich die Unita- Rebellen etwa zwölf Kilometer außerhalb der Stadt ein. Tag für Tag regnen seither Artilleriegeschosse auf Regierungsstellungen und manchmal auf die Häuser am Stadtrand. Die Taktik ist eindeutig: Luena soll isoliert und ausgehungert werden.

Aber nicht nur Wahlverlierer Jonas Savimbi setzt den Hunger als Waffe ein. Ein Vertreter der Vereinten Nationen: „Beide Seiten versuchen sich gegenseitig auszuhungern.“ In ganz Angola hat der Vernichtungskrieg in den letzten Wochen über 20.000 Todesopfer gefordert. Zehntausende von Menschen wurden obdachlos. Allein in der am stärksten umkämpften und größten Stadt des Hochlandes, Huambo, sollen nach Regierungsangaben 10.000 Menschen ums Leben gekommen sein.

Zumindest erlaubt die angolanische Regierung seit Mitte Februar wieder Hilfsflüge in einige Gebiete unter Unita-Kontrolle, wo die Caritas die Güter dann verteilt. Die Flüge waren wegen illegaler Aktivitäten der deutschen Organisation „Hilfe in Not“ zeitweise verboten worden. Diese Bonner Gruppierung hatte Unita heimlich aus Namibia mit Lebensmitteln versorgt und gegenüber den Behörden fälschlicherweise behauptet, dies geschehe im Rahmen einer UNO-Aktion.

Philippe Borel vom Welternährungsprogramm (WFP) schätzt, daß während der nächsten sechs Monate bis zu 1,8 Millionen Angolaner von einer Hungersnot betroffen sein werden. Pater Konrad Liebscher, der aus Recklinghausen stammende Caritas-Chef in Angola, befürchtet ebenfalls Schlimmes: „Vor allem der Süden Angolas, der ohnehin unter einer Dürre leidet, könnte wegen des Krieges zum Katastrophengebiet werden.“

Noch besteht Uneinigkeit über die Ausmaße der Hungersnot: Andere UN-Agenturen spielen die alarmierenden Vorhersagen des WFP herunter. Aber Stephen Greene, Mitglied einer zweiköpfigen WFP-Delegation, die Mitte Februar vom Hauptquartier Rom nach Angola eilte, erklärte: „Wir müssen verhindern, daß es zu einer ähnlichen Situation wie in Somalia kommt.“ In der seit sechs Wochen umkämpften Stadt Huambo ermordeten Unita-Rebellen mehrere angolanische WFP-Mitarbeiter. Aus Ortschaften, die von der Unita erobert wurden, müssen Hilfsorganisationen Vertreter abziehen. Caritas ist mancherorts die einzige Organisation, die noch eine Nahrungsmittelverteilung an Zivilisten garantieren kann.

„Wir sind die einzigen, die in bestimmte Gebiete fliegen“, erklärt demgegenüber WFP-Vertreter Pierre Honorat auf dem Flughafen von Luena. 6.000 Tonnen Nahrungsmittel könnten monatlich verteilt werden. Aber die militärische Lage erlaube lediglich den Transport von 1.200 Tonnen.

Die UNO geht, die Kriegsopfer bleiben

Die Moral sinkt bei den Verteidigern im Kessel von Luena. Ohnmächtig müssen sie zuschauen, wie die Beobachtermission der Vereinten Nationen ihre Ausrüstung in ein Frachtflugzeug schafft. Generator, Sprechfunkgeräte und Computer verschwinden im Bauch der Maschine. Wie überall in der angolanischen Provinz gibt die UNO auch in Luena angesichts des neuen Krieges auf.

Der holländische Militärpolizist Martin Koop holt einige blinde Passagiere aus dem Frachtraum. Sie könnten wegen des mangelnden Druckausgleichs im Frachtraum sterben, wenn die Maschine auf 7.500 Meter klettert. Der zurückgelassenen Bevölkerung von Luena bleibt nur eine Hoffnung: das nächste Frachtflugzeug mit Lebensmitteln und Piloten, die sich erweichen lassen, Passagiere mitzunehmen. Mangels ständig anwesender ausländischer Vertreter droht aber auch das Elend in Luena nun in Vergessenheit zu geraten.

„Wir können keine Militärs mitnehmen, weil uns dann vorgeworfen wird, wir wären parteiisch“, sagt Pierre Honorat. So blieben mehrere Patienten mit Schußverletzungen auf dem Flugfeld von Luena zurück. Die Ninjas reagieren mit Feindseligkeit auf die Weigerung des WFP-Vertreters, keine Verletzten mitzunehmen. Der Polizeikommandant mischt sich lautstark ein, mehrere Polizisten versammeln sich mitsamt Waffen vor der Flugzeugtür. „Wenn der Druck zu schlimm wird, hilft nur eine Drohung. Wir machen klar, daß wir dann weitere Hilfsflüge einstellen“, erklärt nachher der Franzose Honorat.

Als sich das Flugzeug in die Luft hebt, liegt auf dem Gang zwischen den Flugzeugsitzen schließlich nur ein wachsbleicher junger Mann. Die Brust senkt sich in hastigen Atemzügen. Honorat hatte sich bereit erklärt, diesen Kranken auf dem eineinhalbstündigen Flug in die Hauptstadt Luanda mitzunehmen. Die Hilfe kommt zu spät. Er stirbt während der Fluges.