Jünglinge, Tunten, Epigonen

„Sexual politics“ waren das zentrale Thema der 43. Berlinale/ Den Goldenen Bären teilen sich ein Beitrag aus Taiwan und einer aus der Volksrepublik China  ■ Aus Berlin Mariam Niroumand

In diesem Jahr hatte die Presse ausnahmsweise einmal nicht schon im voraus auf den Berlinaleleiter Moritz de Hadeln eingedroschen, weil er sich beschränkt hatte in bezug auf amerikanische Großproduktionen und weil die Auswahl afrikanischer und asiatischer Beiträge nicht nur einem Ethno-Proporz gefolgt, sondern thematisch orientiert war. Vorgeführt wurden – ob beabsichtigt oder nicht – Minderheiten unter Minderheiten: ein Outlaw-Gangster in Burkina Faso, ein schwuler Arzt in Tokio, eine Gruppe Theater spielender alter Männer in Peking, ein intellektueller Schwarzer oder ein Gewerkschaftler im Amerika der 50er Jahre, ein algerischer Franzose auf den Spuren des jungen Werther, eine chinesische Geschäftsfrau mit Liebhaber, zwei durchgeknallte Deutsche zu Gast in der Ukraine.

Während die Panorama-Sektion des Festivals traditionell einen Schwerpunkt im Bereich Sexualität und schwule Subkultur hatte, fanden sich nun auch im Wettbewerb überraschend viele Beiträge, die in der einen oder anderen Form um sexual politics kreisen – es gibt im Deutschen kein Äquivalent für diesen Begriff, der eine Verbindung zwischen Sexualität, Alltagskultur, Privatheit und politischen Machtverhältnissen beschreibt.

Dabei entstanden mitunter schwindelerregende Ausblicke auf neue Formen des Zusammenlebens: Der taz-Bär-verdächtige japanische Beitrag „Okoge“ zum Beispiel porträtiert ein junges Mädchen, das glücklich dabei ist, Schwulen zuzusehen. Am Strand lernt sie ein Paar kennen, das keine Chance hat, in den eigenen Wohnungen, wo sie mit Mutter oder Zwangsehepartner leben, miteinander zu schlafen. Sie stellt ihnen ihre Wohnung zur Verfügung, lauscht zufrieden den Geräuschen aus dem Nachbarzimmer, blättert in Bilderbüchern. Natürlich fliegt die Sache auf; alle Welt fordert, daß die Outcasts wirklich in ihren Nischen bleiben. Aber als das Mädchen, von ihrem Zwangsehemann vergewaltigt, in die Schwulenbar läuft, verprügeln die als Geishas gestylten Tunten den Schwulenhasser. Sie findet bei einem der beiden Männer Asyl, und so wird ein Schwuler der Vater ihres Kindes.

Diese Konstellation, eine Absage an das Regiment der Biologie und die Tradition, wiederholte sich auch im sehr viel hollywoodgerechteren „Hochzeitsbankett“, einem Beitrag aus Taiwan, der das Ganze ins Yuppie-Milieu nach Greenwich Village transportiert hat, oder in „Twinkle“, in dem eine Japanerin als Alkoholikerin auftritt – ganz gegen das Klischee einer stets gesunden japanischen Strenge.

Ist die sexuelle Repression in diesen Beiträgen noch rauhe Wirklichkeit, wird Sexualität in anderen zur Metapher. „Inge, April und Mai“, ein deutscher Beitrag von Wolfgang Kohlhaase, erzählt das Kriegsende als die Geschichte der sexuellen Initiation eines Jungen und verkoppelt so den Mythos von der Stunde Null mit der verhinderten Entjungferung – die Bundesrepublik, eine unbefleckte Empfängnis.

Noch dreister „Die Denunziantin“, Thomas Mitscherlichs Porträt der Helene Schwärzel, die ihren Bürgermeister Goerdeler, ein Mitglied des deutschnationalen Widerstands, an die Polizei verraten hat. Mit gestärkten Blusen und Zickigkeiten bei Annäherungsversuchen im Hausflur wird ein Zusammenhang zwischen sexueller Verklemmtheit und der Denunziation konstruiert – womit die Deutschen in die Psychopathologie entlassen sind (und nebenbei eine Lanze für die kleinen IMs gebrochen wird).

Viel deutlicher als noch vor ein paar Jahren wird klar, daß Sex in die filmische Geschichtsschreibung gehört. „Malcolm X“, Spike Lees epische Antwort auf „JFK“, ist auch eine Geschichte über den Körper des schwarzen Mannes, der sich von den platinblonden Giften, dem Schweinefleisch und dem Alkohol des weißen Mannes nur in asketischer Selbstreinigung befreien kann, in den geschlossenen Reihen der Brüder des gestärkten weißen Hemdes, der „Nation of Islam“. Spike Lees Film sieht man die zwanzig Jahre, in denen auch die weiße Linke den Chauvinismus als Problem entdeckt hat, durchaus an.

Warum übrigens in so kurzer Folge vier biographische Filme erscheinen, die die 60er Jahre neu bewerten – „Bob Roberts“, „JFK“, „Hoffa“ (ein Wettbewerbsfilm über einen mafiosen Gewerkschaftsboß) und „Malcolm X“ – das muß man wohl diejenigen fragen, die neu definieren wollen, was in bezug auf Nationalismus, Vietnam, den Niedergang der Gewerkschaften und der korrumpierten Politikerkarrieren politisch korrekt ist.

Sich in die Geschichte einschreiben, aus der die Parias bisher ausgeschlossen waren, darum ging es in einigen der Independent-Produktionen. „Rock Hudson's Home Movies“ läßt höchst charmant einige Filmszenen Revue passieren und hält Blicke zwischen John Wayne oder Jack Lemmon und Hudson als insgeheim geiles Werben fest. Ein „Coming-out“ durch Slow Motion für den Mann, der sein Leben lang als Epitom amerikanischer Virilität galt, um dann 1989 an Aids zu sterben.

„Nitrate Kisses“ von Barbara Hammer, der Veteranin des lesbischen Films, zeigt eine Gruppe älterer Frauen durchs New Yorker Village schlendern. Sie erinnern sich daran, wie sie sich als junge Mädchen an Bahnhöfen trafen, um sich küssen zu können – weil es bei Abschieden und auf der Straße eher akzeptiert wurde. Sammelt eure Fotos, erinnert euch, schreibt eure Geschichte auf Zelluloid, auf Nitrat – der Gestus des Films ist der einer Ermutigung.

Mit der Entscheidung, „Die Frauen vom See der duftenden Seelen“, der Geschichte einer chinesischen Geschäftsfrau, die sich – zwischen einschnürender chinesischer Tradition und kühler japanischer Moderne – für einen dritten Weg entscheidet, hat die Jury endlich sowohl politisches als auch ästhetisches Format gezeigt. Kühl und klar wie ein chinesisches Aquarell zeichnet der Film ein Dorf in der Transformation. Nicht nur das: Er teilt sich den Goldenen Bären mit dem taiwanesischen Beitrag „Das Hochzeitsbankett“ – ein zwar glatt inszeniertes, aber dennoch mutiges Pamphlet für schwule Dreiecksverhältnisse mit Frauen.

Daß der Silberne Bär an Emir Kusturicas „Arizona Dream“ ging, eine mehr oder weniger kunsthandwerkliche Pläsanterie, hat wohl mehr mit der jugoslawischen Herkunft des Regisseurs zu tun. Die europäische Filmakademie vergab ihren Engel wiederum völlig zu Recht an „Le Jeune Werther“. Man wagt kaum zu hoffen, was sich hier andeutet: daß die Berlinale wieder zu einem Festival mit Brisanz, Aktualität und wirklicher Internationalität wird.