Ukraine: Erstickte Reform

Hyperinflation und Korruption: Reformminister Viktor Pinsenik will mit Notstandsgesetzen den Verfall der Wirtschaft aufhalten  ■ Von Keno Verseck

Kiew/Budapest (taz) – Noch vor gut einem Jahr schätzten Ökonomen die wirtschaftliche Zukunft der Ukraine als vergleichsweise aussichtsreich ein. Die Deutsche Bank etwa stellte in einer Studie vom Dezember 1991 fest, daß der zweitgrößte Staat Europas unter allen Ex-Sowjetrepubliken die besten Chancen für eine erfolgreiche Transformation hin zur Marktwirtschaft habe. Doch solche Prognosen wagen inzwischen nicht einmal mehr Zweckoptimisten.

Seit Leonid Kutschma im Oktober letzten Jahres zum Regierungschef des 52-Millionen-Landes gewählt wurde, verkündet der ehemalige Direktor der größten Raketenfabrik der Welt regelmäßig Hiobsbotschaften, die einander überbieten. Die Ukraine stehe vor dem völligen Zusammenbruch ihrer Wirtschaft und werde im Chaos versinken, würden nicht sofort tiefgreifende Reformen eingeführt werden, beschwor er erst kürzlich die Parlamentarier in Kiew.

Nach hundert Tagen Amtszeit der Regierung präsentierte der reformorientierte Wirtschaftsminister Viktor Pinsenik Anfang Februar nun ein Antikrisenprogramm, das vom Parlament nach heftigen Auseinandersetzungen angenommen wurde. Der Eckpunkt der beschlossenen Maßnahmen ist freilich kein ökonomischer. Die „Anarchie in der Produktion“ und die sich „ausbreitende Korruption und Kriminalität“ (Kutschma) sollen in erster Linie durch eine mit weitreichenden Vollmachten ausgestattete Regierung bekämpft werden.

Angesichts eines schier ausweglosen Teufelskreises von Hyperinflation und dramatischem Produktionsrückgang, in den das Land geraten ist, kommt der Ruf nach Notstandsvollmachten nicht überraschend. Im letzten Jahr betrug die Inflation nach ukrainischen Angaben 5.600 Prozent, die Industrieproduktion sank um 14 Prozent. Das Haushaltsdefizit erreicht inzwischen die horrende Summe von 36 Prozent des Bruttosozialprodukts, das seinerseits um rund 15 Prozent sank.

Drastisch ging auch die landwirtschaftliche Produktion zurück, so daß der einstige „Brotkorb Europas“ mittlerweile Millionen Tonnen Getreide importieren muß. Die Energieversorgung ist akut gefährdet, da die Ukraine nur die Hälfte ihres Energiebedarfes aus eigener Kraft decken kann und Turkmenistan im letzten Frühjahr wegen Preisstreitigkeiten die Lieferung von mehreren Milliarden Kubikmetern Erdgas verweigerte. Auch mit Rußland hat sich die Kiewer Regierung noch nicht über den Preis der Erdölimporte einigen können. Zu alledem stockte im letzten Jahr auch noch die eigene Kohleförderung erheblich.

Obwohl die Ukraine im Vergleich zu den meisten anderen GUS-Republiken ökonomisch besser entwickelt ist, sind ihre Voraussetzungen, unter Marktbedingungen zu überleben, denkbar schlecht. Eine veraltete, energieintensive und umweltschädliche Schwerindustrie dominiert die Wirtschaftsstruktur. Die ukrainische Rüstungsindustrie ist zwar modern, heute aber zum größten Teil nutzlos geworden. Allein ihre Konversion würde, so eine ukrainische Schätzung, drei Milliarden Dollar verschlingen. Auch der für GUS-Verhältnisse gut entwickelte Maschinenbau hält auf internationaler Ebene keiner Konkurrenz stand. Ein Dienstleistungssektor wiederum ist nur in Ansätzen vorhanden.

Äußerst nachteilig hat sich für die Ukraine die Einführung von Weltmarktpreisen im Handel zwischen den GUS-Republiken ausgewirkt. Während der sowjetische Teilstaat früher für subventionierte industrielle Fertigprodukte Rohstoffe wie Erdöl und Erdgas zu Preisen unter Weltmarktniveau bezog, haben sich die Preisverhältnisse seit der Auflösung der Sowjetunion ins Gegenteil verkehrt. Anderseits verfügt die Ukraine kaum über Handelsbeziehungen außerhalb der GUS; die Devisenreserven sind nach offiziellen Angaben auf vier Millionen Dollar geschrumpft und liegen damit praktisch bei Null.

Die einzig wesentliche Reform vor Antritt der Kutschma-Regierung, die Einführung der Kupon- Ersatzwährung „Karbowanjez“ Anfang letzten Jahres, hat die Hyperinflation verschärft, anstatt sie zu mildern. Die spielgeldartigen Kupons waren als Übergangswährung auf dem Weg zur Einführung der „Hrywnja“ gedacht und sollten die Abhängigkeit der Ukraine von der russischen Finanzpolitik beenden. Schwindendes Vertrauen in die Währungspolitik der Kiewer Regierung ließ jedoch mehrere hundert Milliarden Rubel aus dem Land fließen, ohne daß dafür im selben Ausmaß Waren importiert worden wären.

Im vergangenen Februar wurden zwar Gesetze über die Privatisierung der Industrie und der Landwirtschaft, Auslandsinvestitionen und die Liberalisierung der Außenwirtschaft erlassen, praktische Schritte zu ihrer Umsetzung erfolgten jedoch kaum. Beobachter kritisierten zudem, daß die Privatisierung, die auf dem Papier vorsah, 40 Prozent der Unternehmen den Belegschaften zu übereignen, vor allem die Betriebsdirektoren und die noch immer herrschende Nomenklatura begünstige.

Am Willen, den ökonomischen Zusammenbruch durch Reformen aufzuhalten, hat es vor allem Wirtschaftsminister Pinsenik nicht fehlen lassen. Er sieht sich jedoch einem mehrheitlich aus exkommunistischen Apparatschiks bestehendem Parlament und einem konservativen Präsidenten gegenüber, die Reformen bisher weitgehend zu verhindern wußten.

Dem Präsidenten Leonid Krawtschuk, in der Kommunistischen Partei einstmals ZK-Sekretär für ideologische Fragen, werfen Kritiker vor, er regiere das Land wie ein absolutistischer Fürst. Krawtschuk seinerseits interessiert sich offensichtlich mehr dafür, wie er seine Kritiker zum Schweigen zu bringen kann, als für Wirtschaftsfragen. Schlagzeilen machte vergangenen November der Fall der 78jährigen Walentina Jerofejewa, die wegen eines kritischen Briefes, der in der Zeitung Wetschernyj Kiew erschien, der Präsidentenbeleidigung angeklagt wurde.

Mit Verweis auf die katastrophale Wirtschaftslage hatte Kutschma Ende Dezember seinen ersten entscheidenden Reformschritt begründet – umfangreiche Preiserhöhungen und einen Lohnstopp nach gleichzeitiger Erhöhung der Renten und Minimallöhne. Nun sollen nach dem Plan von Wirtschaftsminister Pinsenik neben einer mit Vollmachten arbeitenden Regierung vor allem umfangreiche Steuersenkungen eingeführt werden, um die Wirtschaftstätigkeit zu beleben. Weitere Punkte betreffen eine streng restriktive Geldmengenpolitik, die Demonopolisierung der Wirtschaft, die schnelle Privatisierung von Kleinbetrieben und des Bodens sowie die Privatisierung oder Schließung von Großbetrieben.

Daß der Verfall der Wirtschaft allerdings bis Jahresende zum Stillstand gebracht werden kann, wie Kutschma versprach, wird auch in der Ukraine selbst als unwahrscheinlich angesehen. Nachdem Kiewer Arbeiter im Dezember gegen die Preiserhöhungen gestreikt hatten, bat der Regierungschef die Bevölkerung jetzt erst einmal flehentlich um mehr Geduld: „Es gibt keinen anderen Ausweg. Wir müssen alle eine Zeitlang etwas schlechter leben.“