■ Hindu-Fundamentalisten gegen Regierung in Indien
: Machtkampf, dritte Runde

Der heutige Tag ist entscheidend für die Zukunft Indiens. Mit ihrem Aufruf zu einer Großdemonstration in der Hauptstadt, Höhepunkt eines „Marsches auf Delhi“, beginnt die fundamentalistische „Bharatiya Janata Party“ (BJP) die dritte Runde ihres Aufstiegskampfes. Die ersten zwei Runden hat sie de facto bereits gewonnen. Zuerst, im vergangenen Dezember, kam die religiöse Auseinandersetzung – die Stürmung und Zerstörung der Moschee, die auf dem angeblichen Geburtsort des Hindu-Gottes Ram in der nordindischen Stadt Ayodhya stand. Wenige Wochen darauf folgte der soziale Kampf – die antimuslimischen Pogrome in der Wirtschaftsmetropole Bombay. Jetzt wird die Schlacht in die Hauptstadt getragen. Sollte die BJP es schaffen, trotz Verbotes, trotz Massenverhaftungen und eines gigantischen Polizeiaufgebots ihre Anhänger zu Hunderttausenden auf die Straße zu bringen, wird sie zum politischen Sieger über die Regierung. Sollten die Sicherheitsbemühungen der Regierung Erfolg zeigen und Delhi heute ruhig bleiben, wäre dies für die BJP eine Niederlage.

Daß es zu dieser Zuspitzung gekommen ist, gilt allgemein als Ausdruck einer beispiellosen Schwäche und Initiativlosigkeit des Premierministers. Narasimha Rao, der in der indischen Presse mit Vorliebe als Schlafender abgebildet wird, steht für eine wachsende Zahl inner- und außerparteilicher Kritiker auf der Abschußliste: Er habe durch seine Untätigkeit in Ayodhya und Bombay die fundamentalistische Gewalt ermutigt und Indien in eine beispiellose gesellschaftliche Krise gestürzt. Aber die Konstellation der heutigen Kraftprobe deutet eher in eine andere Richtung. Um sich durchzusetzen, können die Hindu- Chauvinisten diesmal nicht einfach Muslime angreifen – sie müssen sich der Staatsmacht stellen. In einem Showdown zwischen indischer Staatsmacht und indischen Demonstranten jedoch konnten die Demonstranten noch nie bestehen. Daß es Rao geschafft hat, durch sein als Unentschlossenheit präsentiertes Taktieren den Konflikt mit der BJP nach Delhi und damit in das Herz der Macht zu führen, könnte ihm zu zu einem öffentlichkeitswirksamen Erfolg gereichen. Und indem die BJP sich darauf eingeschossen hat, sofortige Neuwahlen ins Zentrum ihrer Forderungen zu stellen, fügt sie sich einer Institutionalisierung des Konflikts, die eher dazu geeignet ist, ihre eigenen Widersprüche bloßzulegen, als sie direkt an die Regierung zu führen. Je lauter die hinduistische Oppositionspartei den Sturz Raos fordert und damit in die legendär langsam mahlenden Mühlen des regierenden Kongreß-Establishments gerät, desto schneller wird sie vom Antreiber der Krise zum Getriebenen. Vor einem Durchbruch im langen Marsch an die Macht steht die BJP heute nicht. Dominic Johnson