Die Welt wird plötzlich wieder ganz klein

■ Für viele Menschen ist das Altenheim die letzte Station auf ihrem Lebensweg. Oft erwarten sie dort große Schwierigkeiten. Im Eimsbüttler Haus St.Markus gibt es Mängel, die dringens behoben...

die letzte Station auf ihrem Lebensweg. Oft erwarten sie dort große Schwierigkeiten. Im Eimsbüttler Haus

St.Markus gibt es Mängel, die dringend behoben werden müssen. Nur die Behörde läßt sich viel Zeit damit, die notwendigen Gelder zu genehmigen.

Der Tag beginnt mit Schmerzen. „Sie machen ja was mit mir“, stöhnt die 85jährige Nora H., als Schwester Karin sie im Bett auf die Seite dreht. Um sieben Uhr werden die PatientInnen der Pflegestation im Eimsbüttler Altenheim St. Markus geweckt und gewaschen. Wer aufstehen kann, dem hilft die Schwester beim Anziehen und bringt ihn den Aufenthaltsbereich am Eingang.

„Gott geht durch den Wald und sammelt Holz — es ist so kalt“, reimt die alte Frau im Rollstuhl, während Schwester Karin ihr „Petzi“ in die Arme legt — einen abgeliebten Teddybären. Das Zimmer ist zweckmäßig eingerichtet: Zwei Krankenbetten, braune zerkratzte Schränke, Waschbecken, graue Vorhänge, Tisch und Stühle. Persönliche Gegenstände gibt es kaum. Nur über den Betten hängen ein paar schwarzweiße Erinnerungsfotos aus besseren Tagen.

Die Pflegearbeit ist anstrengend im Altenheim St. Markus. „Überall wird gespart“, sagt Schwester Karin. „Es gibt zu wenig Toilettenstühle und auf der ganzen Station nur eine Dusche.“ In einem ungeheizten Raum, der im Winter viel zu kalt ist. Die Mehrbettzimmer sind sehr eng. „Mit einem Rollstuhl muß ich da schon genau rangieren.“ Der 1962 errichtete Komplex genügt kaum noch den Anforderungen an eine umfassende Betreuung.

Trostlosigkeit und Intoleranz im Heim

Im Aufenthaltsbereich steht ein abgewetztes Ledersofa, einige Sessel und Stühle. Dort verbringen die Alten ihre Zeit, wenn sie aus einem der sechs Stockwerke herunterkommen. Sie sitzen ein bißchen versteckt hinter zwei, mit mickerigen Grünpflanzen bewachsenen Gittern. Von hier aus beobachten die HeimbewohnerInnen, wer ein und aus geht. Und nur sehr selten sprechen sie auch miteinander. Die Pflegefälle sitzen ein wenig abseits an einem Extra-Tisch. Fast keiner der rüstigeren Alten kümmert sich um sie. Im Gegenteil, viele von ihnen stören sich am Anblick der Gebrechlichen. „Die gehören doch alle nach Ochsenzoll“, heißt es hinter vorgehaltener Hand. Eine Einstellung, die Schwester Karin bedrückt: „Irgendwann habe ich aufgehört, Toleranz anzumahnen.“

Doch für die meisten der alten Menschen reicht die Welt nur ein paar Schritte aus ihrem Zimmer über den dunklen Flur. Dort sitzen sie auf klapprigen Stühlen und blikken auf die Gärtnerstraße hinab, die vielen von ihnen schon seit frühester Jugend vertraut ist. Denn die meisten kommen aus dem Viertel. „Aber von unseren 86 Bewohnern verlassen nur noch zehn das Haus“, sagt Wolfgang Janzen, Leiter des Altenheimes St. Markus. „Deshalb ist der Standort des Heimes hier im Stadtteil besonders wichtig.“ So werden die Menschen nicht völlig aus ihrer Umgebung herausgerissen.

Seit eineinhalb Jahren leitet Janzen jetzt das Altenheim und genauso lange kämpft er gegen die offensichtlichen Mängel der Einrichtung. „Es gibt nur einen Fahrstuhl im gesamten Haus, der längst nicht ausreicht. In den dunklen Fluren fühlt sich niemand wohl. Und wir bräuchten dringend eine Rollstuhlrampe“, zählt er nur einige der Schwierigkeiten auf, die die tägliche Arbeit erschweren und den Lebensabend der Alten belasten. Manchmal hat Wolfgang Janzen das Gefühl, er reitet gegen Windmühlenflügel an. Besonders, wenn er sieht, wieviel mehr Geld den staatlichen Altenheimen zur Verfügung gestellt wird. „Bei 5000 Bettplätzen können die derzeit über ein Bauvolumen von 120 Millionen Mark verfügen.“ Zum Vergleich: Die gemeinnützigen Altenheime haben bei 4000 Bettplätzen gerade 55 Millionen Mark gefordert, um die dringendsten Modernisierungen durchführen zu können. Genehmigt sind diese Gelder allerdings bis heute noch nicht.

Als gemeinnützige Einrichtung der Kirchengemeinde St. Markus arbeitet das Altenheim an der kurzen Finanzleine. Ungefähr vier Millionen Mark stehen ihm für 1993 zur Verfügung — bis zu drei Viertel davon entfallen auf die Personalkosten. Dabei sind von 47 genehmigten Stellen gerade mal 25 für den Pflegedienst ausgewiesen.

Gestreßtes Personal und museumsreife Technik

Alle anderen Beschäftigten arbeiten in der Küche oder der Wäscherei; sind für die Gebäudereinigung zuständig oder für Reparaturen.

Für zusätzliche Anschaffungen bleibt da nicht mehr viel übrig. „Als besonders anmaßend empfanden wir die Äußerung des Sprechers der Behörde für Arbeit, Gesundheit und Soziales, wonach gerade in den staatlichen Heimen die besonders stark hilfebedürftigen, betagten Menschen leben“, klagte Janzen kürzlich in einem Brief an alle Bürgerschaftsabgeordneten aus der Region Eimsbüttel.

Von den 86 BewohnerInnen des Altenheims St. Markus sind 63 pflegebedürftig. Sie werden von morgens bis abends betreut. Die AltenpflegerInnen sind ständig auf den Beinen, haben selten eine ruhige Minute. Dennoch ist die Stimmung unter den Beschäftigten nach Auffassung von Pflegedienstleiterin Susanne Könnemann ungewöhnlich gut. „Obwohl wir in zehn Jahren zehn Heimleiter hatten.“ Doch auch sie sagt, daß die Arbeit durch bauliche Mängel sehr erschwert wird. „Die Pflegekräfte müssen viele unnütze Wege gehen. Alles

1muß durch enge Flure transportiert werden.“ Die Klingelrufanlage funktioniert seit langem nicht mehr richtig. Aber um die völlig veraltete Technik reparieren zu können, fehlen Ersatzteile, die es heute wohl nur noch im Museum gibt. Es sei bereits oft über die Schließung des Heimes gesprochen worden. „Aber — toi, toi, toi — noch haben wir jede Diskussion in diese Richtung überstanden.“ Doch jetzt

1gibt es endlich einen Silberstreif am Horizont.

Der Silberstreif heißt „Teilneubau“. Im nächsten Jahr soll das Altenheim St. Markus für insgesamt 15 Millionen Mark den modernen Pflegeansprüchen angepaßt werden. „Noch glaube ich nicht so ganz daran, daß schon 1994 etwas geschieht“, zeigt sich Leiter Wolfgang Janzen skeptisch. Schon seit Jahren sei nämlich die Modernisierung des Hauses im Gespräch. Die Fachbehörde will staatliche Zuschüsse geben, ein Viertel muß der Träger zahlen. Doch, so Janzen, es gibt bei dem Projekt eine ständige Zeitverzögerung. Er zweifelt zwar nicht, daß etwas getan wird — nur wann, darüber möchte er lieber nicht spekulieren. Jedenfalls soll das Altenheim später 120 Bewohnern Platz bieten und dann soll darin auch tatsächlich gewohnt werden können. „Dunkle Flure werden hoffentlich bald der Vergangenheit angehören.“

Mittags müssen einige der Alten gefüttert. Im Speisesaal wird mit Appetit gegessen, obwohl die Speisen nur lauwarm sind. „Das Essen kommt aus der Küche durch einen zugigen Aufzugsschacht“, entschuldigt Wolfgang Janzen, „Der Wärmeofen in der Ausgabe ist 30 Jahre alt — er wärmt zwar die Schüsseln, aber nicht das Essen.“ Einen richtigen Aufzug und gute Wärmewagen kann sich das Altenheim St. Markus im Moment nicht leisten.

Der Heimbeirat rebelliert gegen das tägliche Chaos

Der 73jährige Herrmann Lewitzke lebt als einziger im sechsten Stock von St. Markus. Im Flur hat er seine Blumenzucht, auf die er sehr stolz ist. Der Deserteur aus dem zweiten Weltkrieg hat lange Zeit in Schweden gearbeitet, bis er nach Eimsbüttel zurückgekehrt ist. An einer Wand seines Zimmers hängen Bilder der europäischen Königsfamilien. „Die Windsors aus England kommen weg, die mag ich nicht mehr“, sagt er. Herrmann Lewitzke ist Mitglied des Heimbeirates der Bewohner. „Hier muß dringend etwas getan werden.“ Auch er rügt vor allem die vielen baulichen Mängel.

Über seine Mitbewohner sagt er: „Entweder sie resignieren oder sie werden grantig.“ Darunter würden besonders die Schwestern leiden und die Lust verlieren. „Mit alten

1Menschen, das ist Knochenarbeit.“ Dabei seien die Schwestern wirklich nett, meint Lewitzke. „Doch manchen Leuten können sie es nie recht machen. Auch der Janzen hat das hier nicht leicht.“ Die Leitung habe wunderbare Ideen — „nur sind die aus Geldmangel nicht machbar“. Herrmann Lewitzke fordert dringend einen zweiten Fahrstuhl und die Verlegung der Küche aus dem Keller nach oben. „Dann

1ist sie nicht mehr so eng und das Essen bleibt warm.“

„Wissen Sie“, sagt er, „ich bin so'n bißchen engagiert.“ Die Immobilie sei wertvoll. „Aus diesem Haus könnte man etwas machen, wenn man richtig investiert.“ Ihm gegenüber sitzt Detlev Tafelsky, ebenfalls im Heimbeirat. „Ich wünsche mir vor allem mehr Informationen und Offenheit von der Leitung“, erklärt er. In der schwierigen Situation sollte es mehr Gespräche zwischen Heimleitung und dem Beirat geben. Auch Tafelsky meint, das Haus müsse total umgebaut und modernisiert werden.

Die Beschäftigungstherapeutin Frauke Stute strahlt Ruhe aus. Sie bietet ein Programm für die alten Menschen an. „Man muß die Leute beaufsichtigen“, sagt sie. Aber auch: „Es ist schwierig, die Leute zu motivieren.“ Einmal im Monat lädt der Gastwirt eines benachbarten Lokals zu Kaffee und Kuchen ein. Doch die Schwierigkeiten bei diesen Ausflügen beginnen bereits im Heim. „Die Türen gehen zu schwer auf, und mit den Rollstühlen muß ich Umwege fahren, weil die Eingangstreppe zu lang ist“, erzählt die Therapeutin.

Nicht nur Ausflüge, auch der Alltag erfordert von BewohnerIn-

1nen und MitarbeiterInnen viel Improvisationstalent. Weder Taxis noch Krankenwagen können vor dem Heim halten, da es keinen Parkplatz gibt. Und im Innenflur des Hauses öffnen sich viele der Türen gegeneinander. Bis da jemand zur Toilette durchkommt, muß er mehrmals Türen öffnen und schließen.

Frauke Stute spielt viel mit den Alten und versucht, sie für Handar-

1beiten zu interessieren. Doch auch ihre Möglichkeiten werden durch den Mangel an Geld begrenzt. „Mit einem jährlichen Etat von nur 10000 Mark komme ich nicht sehr weit.“ Bastel-Material und besonders große Holzspiele sind teuer. „Denn es muß schon etwas Stabiles und Großes sein für die alten Leute.“ Wenn die sich beim „Mensch-ärgere-dich-nicht“ ärgern, fliegen schon mal die Spielfiguren durcheinander.

Das lange Warten darauf, daß irgend etwas passiert

Am Nachmittag sitzen die Alten noch immer in ihrem Aufenthaltsbereich am Eingang und warten darauf, daß etwas passiert. Manchmal helfen sie sich gegenseitig. Eine Frau holt für ihre Nachbarin etwas zu trinken. Als diese den Becher aber nicht schnell genug nimmt, ist die Frau beleidigt. Auf einmal sagt ein alter Mann ganz unerwartet zu einer Pflegerin: „Ich habe Angst, daß ihr einmal weggeht.“ Schwester Elisabeth hält kurz seine Hand und verspricht: „Wir gehen nicht weg.“ Der alte Mann lächelt, und Schwester Elisabeth muß sich um jemand anderen kümmern. Torsten Schubert