Erstickende Einsamkeit

■ Mehr als unterkühlt: Natalia Ginzburgs Roman „So ist es gewesen“, jetzt auf deutsch erschienen

Wenn der Roman einer scheiternden Ehe damit beginnt, daß eine Frau ihren Gatten erschießt, ist das nicht nur die politisch korrekte Umkehrung der üblichen Eifersuchtsszenarien von „Othello“ (Shakespeare) bis zu „He Joe“ (Jimi Hendrix), zu deren Muster gehört, daß der Herr, voller Selbstmitleid natürlich, die Dame meuchelt; eine Autorin, die ihren Roman so beginnt, stellt von vornherein klar, daß den Leser kein nettes Idyll erwartet, sondern die Geschichte einer Desillusionierung, die nüchtern seziert wird.

Natalia Ginzburgs Tonfall ist mehr als unterkühlt: Sie tut, als würde sie lediglich einige Fakten zu Protokoll geben: „So ist es gewesen.“ Diesen lakonischen Stil, der ihr gesamtes Werk prägt, setzt sie in ihrem zweiten Buch, das 1947 in Italien erschien und jetzt in einer glänzenden Übersetzung dem deutschen Publikum zugänglich gemacht wird, mit einiger Radikalität ein: ein ins Extrem getriebener neorealismo, der seine Liebesgeschichte ohne Ausflüge ins romantische Bilderarsenal erzählt.

Erzählt wird aus der Perspektive der unglücklichen Frau, die in der Retrospektive in ihre triste Geschichte eintaucht. Nach dem Mord („Ich habe zu ihm gesagt: ,Sag mir die Wahrheit‘, und er hat gesagt: ,Welche Wahrheit?‘ Ich habe ihm in die Augen geschossen“) irrt sie durch die Stadt und überlegt, was sie der Polizei sagen soll: „Ich würde versuchen zu erklären, wie sich die Dinge in etwa zugetragen haben, aber es würde nicht leicht sein.“ Der Versuch, nicht der Polizei, sondern sich selbst „die Dinge“ zu erklären, treibt ihr Selbstgespräch voran. Die Hilflosigkeit gegenüber der eigenen Geschichte und die tastenden Versuche, sich in ihr zurechtzufinden, bilden das Zentrum des Romans. Der Kreis schließt sich, wenn sie auf der letzten Seite am Küchentisch sitzt. Entschlossen, sich umzubringen, beginnt sie, ihre Geschichte, den Roman, den wir eben gelesen haben, aufzuschreiben: „Ich habe Feder und Tinte genommen und angefangen, ins Haushaltsbuch zu schreiben. Auf einmal habe ich mich gefragt, für wen ich denn schrieb. Für wen? Es war zu schwierig, das zu entscheiden, und ich fühlte, daß die Zeit der klaren und gewohnten Antworten für immer in mir zum Stillstand gekommen war.“ Kurz vor dem anvisierten Selbstmord platzen die standardisierten Lebenslügen und machen den Blick frei für „analytische Einsichten, deren Kraft gleich ist der Energie und dem Leiden, womit sie errungen werden“ (Adorno) – eine traurige Paradoxie: zu sich selbst zu kommen im Rückblick auf das gescheiterte Leben, eine Erkenntnis, der nicht ein neues Leben folgt, sondern das Ende.

Natalia Ginzburg knüpft mit dieser Motivierung des Erzählens an früheste Funktionen von Fiktion an: Erzählen als der Versuch, sich etwas Unverständliches zu erklären, eine Erfahrung durch Interpretation faßbar zu machen. Faszinierend ist, wie der unsentimental sezierende Blick der ihre Biographie rekonstruierenden Frau die Katastrophe sichtbar macht. Ihr Erzählen hält in überscharfen Momentaufnahmen einzelne Augenblicke fest, ohne eine Entwicklung, ein Sinn-Kontinuum herzustellen. Die genaue Beschreibung, die knappen Parataxen, das betont einfache Vokabular, die zahlreichen Wiederholungen einzelner Sätze lassen die Erzählung seltsam naiv wirken: Die einzelnen Wahrnehmungen sind noch nicht durch ein Begreifen strukturiert. Die sich an ihre Geschichte Erinnernde hält sich an der Chronologie, an den äußeren Fakten der desaströsen Ehe fest, als fürchte sie, daß ihr ohne diese Marksteine die Realität restlos entgleiten könnte. Ebenso fremd wie von der Außenwelt spricht sie von ihren eigenen Empfindungen — auch ihnen ist nicht zu trauen. Gerade indem sie die Verzweiflung nicht benennt, wird ihre Ausweglosigkeit erahnbar.

Die Liebesgeschichte beginnt als prächtiges Spiegelkabinett der Projektionen: Eine etwas introvertierte, etwas einsame Lehrerin lernt bei Bekannten einen deutlich älteren Mann kennen und trifft ihn danach oft in Cafés und zu Spaziergängen: „Er schaute mich mit lustigen, leuchtenden Augen an, und ich dachte, er sei vielleicht in mich verliebt.“ In ihrem tristen Pensionszimmer „mit den geblümten Tapeten“ wartet sie auf seine Besuche, und „ich schämte mich und tat vor mir selbst so, als wartete ich gar nicht“. Nicht, daß der Herr sie besonders begeistert, aber ohne ihn ist ihr Leben noch trostloser: die Genese einer Verliebtheit aus der Tristesse. Alberto, so heißt der Herr, ist nicht das Objekt ihrer Begierde, aber sie genießt die Vorstellung, daß er sich nach ihr verzehrt. Diese Mischung aus Narzißmus und Einsamkeit kippt abrupt in heftige Schwärmerei um, die sich weniger in den Freuden des Herzens und des Fleisches manifestiert als in einer nahezu unbegrenzten Leidensbereitschaft: Alberto ist weit davon entfernt, ihre romantischen Gefühle zu erwidern; umstandslos erzählt er seiner Freundin, daß er eine verheiratete Frau unglücklich liebt. Trotzdem wird, in einer Mischung aus Indifferenz und Selbstbetrug, geheiratet. Alberto, eine ziemlich kümmerliche Gestalt, ist ein reicher Eigenbrötler, der sich träge und lustlos durch die Jahre treiben läßt und am Ende bekennt, daß er „niemanden besonders lieb“ hat, nicht einmal seine heimliche Geliebte: „Ich bin ziemlich faul und leide nicht gern.“ Diese dumpfe Leidens- und Liebesunfähigkeit ergänzt die Leidens- und Opferbereitschaft seiner Gattin exakt: eine Symbiose des aneinander Leidens. Nicht um Liebe geht es in diesem Roman, sondern um Selbstbetrug, um große, aber diffuse Sehnsüchte und mehr oder weniger elegant getarnte Lebenslügen. An den Nebenfiguren, Albertos Gelieber etwa, variiert Natalia Ginzburg das Motiv scheiternder oder bloß illusionärer Liebe. Sichtbar wird eine kleine Hölle erstickender Einsamkeit, in der lediglich Francesca, die Cousine der Erzählerin, auf ihre Kosten kommt, indem sie zügig die Lover wechselt und den Trost durch alkoholische Getränke zu schätzen weiß. — In jeder Hinsicht der richtige Roman für diese graue, deprimierende Jahreszeit. Peter Laudenbach

Natalia Ginzburg: „So ist es gewesen“. Aus dem Italienischen von Maja Pflug. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1992, 93 Seiten, 22,80 DM