Ödnis und Kälte im Luftkurort

■ Thalia-Premiere: Jürgen Flimm inszeniert "Die schöne Fremde" von Klaus Pohl

von Klaus Pohl

Der Gastraum im Hotel „Reichsapfel“ ist hoch und groß wie einst Bahnhofsgaststätten in jeder deutschen Kleinstadt. In seinem neuen Stück Die schöne Fremde strickt Klaus Pohl eine einfache Geschichte mit Klischeegestalten. Er wählt Bebra, ehemaliges Zonenrandgebiet, als Ort des Gleichnisses, Bebra ist überall. Die Wut des Autors über das Land, in dem er derzeit nicht wohnen mag, spricht aus dem Bild, gemalt mit grober, knapper und treffender Sprache der Dumpfheit. Seine Art Volksstück über die Xenophobie des deutschen haßerfüllten Spießers und seiner Projektionen sexueller Gier auf die fremde, erotische Frau, erntet anfangs noch amüsiertes Gelächter. — Bis die Kälte bis ins Publikum durchschlägt und sich die „gepflegte“ Brutalität der gemütlichen Bebraner immer rasanter auf der Bühne offenbart.

Drei Lüster aus Neonröhrengarben baumeln an der Decke. Vom Adventskranz mit Neonkerzen zieht sich in Rolf Glittenbergs, das Tümelnde genau bezeichnende Bühnenbild, eine mickrige Lamettakette bis zur Theke. Unter dem Kranz sitzen die Könige von Bebra, die Brüder Ulrich (gefährlich jovial: Jörg Holm) und Christian Maul (als anhänglich-dankbarer Mitlacher: Justus von Dohnányi) und dessen Frau Rosel (vom Pelzkrägelchen gewürgt, vom Kunsthaar gedeckelt: Marina Wandruschka), die außer „aua“ nicht viel sagen darf, beim Rotwein — ‘german gemutlikkeit' voll Enge, Ödnis und Kälte.

Aus dem Schneesturm durch die Drehtür weht es zwei Gäste in die unwirtliche Stätte. Der Fernzug ist im Schnee versackt. Hätte die farbige „Fremde“ (Dorothée Reinoss als einzige selbstsichere Person im Sumpf) nicht den Polen (Stephan Lohse) getroffen, sie hätte in einer Turnhalle nächtigen müssen wie im Lager. So hatte ihr der Vater, der damalige US-Soldat, das Deutschland von 1945 geschildert. Wie hätte sie ahnen können, daß sie 1992 eine Bahnfahrt durch das Land ihrer Mutter zu ihrem Bräutigam in Kopenhagen in die tiefste fremden- und frauenfeindliche Provinz verschlägt, daß die Hilfsbereitschaft einen Polen das Leben kosten wird, daß sie den Demütigungen deutscher Dumpfköpfe — zunächst wehrlos — ausgesetzt sein würde?

1Der Wagen des Polen ist den Mauls im Weg. Aber die mächtigen Brüder haben Lutter, den Mann fürs Grobe, der erst das Auto demoliert, dann dem Polen den Kopf auf die Theke schlägt bis er stirbt, was außer der Fremden später keiner gesehen haben will. Sie ist für die Bebraner die begehrte Nutte, die schließlich an allem schuld ist. Gödeke, genannt Lutter, spielt Hans Kremer zwar als strengen Hundeführer in schwarzem SS-Mantel, aber nicht als polternden Nazi. Von seinem Schäferhund beschützt knöpft er sich die Fremde im Ho-

1telzimmer vor, wo Regisseur Jürgen Flimm die Konfrontation bis ins kleinste ausspielen läßt, und Lutter seine Impotenz nur mit Gewalttätigkeiten kaschieren kann.

Der Anwalt Futterknecht (als ängstlicher Schleimer stets um „gutes Wetter“ bemüht: Klaus Schreiber) rät der Fremden ab, rechtliche Schritte gegen die Mauls, den Handlanger Lutter und die folgsame Wirtin Mielke (gefährlich naiv, ahnungslos und abhängig: Hildegard Schmahl) zu unternehmen. Angeödet flieht sie aus Bebra, und muß im Luxushaus in Kopenhagen sogar

1von ihrem Bräutigam Leon (Klaus Rodewald) hören, es sei sinnlos, im deutschen Sumpf Gerechtigkeit zu fordern, wo leere Köpfe dicke Bäuche krönen. Die Fremde kehrt zurück, läßt die geilen Kerle winseln, bis sie sich das Liebste nehmen: den Schäferhund, den Bruder. Jürgen Flimm, aufrichtiger Kämpfer gegen Fremdenhaß, setzt mit Die schöne Fremde sein Engagement auf der Bühne fort und führt dabei mit einem klischeehaften, aber doch den Punkt treffenden Realismus die tote Volkstümlichkeit in diesem Lande vor. Julia Kossmann