Der Artikel 16 wird mehr als abgeschafft

■ Juristen sehen im Zuge der Asylrechtsänderungen den Rechtsstaat bedroht

Hannover (taz) – Über eines waren sich die 70 Verwaltungsrichter, Rechtsanwälte und Staatsrechtler, die am Samstag in Hannover „Für Asylrecht und Rechtsstaat“ stritten, von vorherein einig: Durch den Asylkompromiß, den in den Bundestag eingebrachten neuen Grundgesetzartikel 16a, werde de facto ein Grundrecht beseitigt. Staatsrechtler Hans-Peter Schneider drückte es so aus: „Von dem im ersten Absatz des 16a weiterhin enthaltenem Grundrecht lassen die folgenden Absätze zwei bis vier nichts übrig“. Es sei schlimm, daß man suggerieren wolle, hier sei ein Grundrecht erhalten worden. – Einigkeit auch darüber, daß der Gesetzgeber die vier Worte „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ gänzlich aus der Verfassung streichen kann. Jedoch stelle sich die Frage: Was das auf „ewig“ festgeschriebene Rechtsstaatsprinzip und die Verpflichtung zum Schutz der Menschenwürde für den Schutz von politisch Verfolgten leiste.

Ein „Zerquatschen“ und eine „Huntzung des Grundgesetzes“ nannte Schneider jene Absätze zwei bis vier des neuen Artikels 16a, in denen unter anderem die sofortige Abschiebung aller auf dem Landwege eingereisten Flüchtlinge vorgesehen ist. Die 272 Worte dieser drei Absätze, die den klaren Satz „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ wieder aufheben, sind für Staatsrechtler ein Sammelsurium von „politischen Wertungen, von Änderungen von Verwaltungsvorschriften, der Verwaltungsgerichtsordnung und anderer völkerrechtlicher Regelungen“, die zudem allesamt nicht in eine Verfassung gehören.

Den über sichere Drittstaaten auf dem Landweg eingereisten Flüchtlingen läßt der neue Artikel bekanntlich faktisch keine Möglichkeit, gegen eine Abschiebung zu klagen. Schneider nannte ihn in Hannover „klar verfassungwidrig. Er wiederspreche dem Prinzip des individuellen Rechtsschutzes, der Rechtswegegarantie. Dieses Prinzip sei ein grundlegender Teil des Rechtsstaatsprinzips und stehe unter der „Ewigkeitsgarantie des Grundgesetzes“. Selbst einen Hinweis darauf, daß der neue Artikel 16a die in Artikel 19 festgeschriebene Rechtswegegarantie einschränke, habe man beim Asylkompromiß schlicht vergessen. Für Schneider geht es bei der geplanten Grundgesetzänderung längst nicht mehr allein um die Flüchtlinge, er sieht die „gesamte Rechtskultur“ bedroht. Seit dem Mittelalter habe im deutschen Recht der Grundsatz gegolten, daß der Staat an Recht und Gesetz gebunden sei. Mit dem neuen 16a, nach dem Flüchtlinge letzlich nach Gutdünken abgeschoben werden können, steht für Schneider eben dieser Grundsatz erstmals in Frage.

Die Justiz sieht er zum „Amt für Abschiebung“ degradiert. Schließlich dürften Verwaltungsgerichte künftig ihnen einleuchtende Beweise für politische Verfolgung nicht mehr berücksichtigen, sie dürften auch bei eigenen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit einer Abschiebung diese nicht untersagen. Niemand widersprach Rechtsanwalt Heinrich Freckmann, als dieser darlegte, daß eine gänzliche Abschaffung des Grundrechts auf Asyl paradoxerweise den Flüchtlingen in der BRD mehr Rechte gesichert hätte. Denn dann würde weiterhin die Genfer Flüchtlingskonvention gelten und gegen ablehnende Entscheidung stünde dann den Flüchtlingen weiterhin der grundgesetzlich garantierte Rechtsweg offen. Jürgen Voges