Vorstädter Raus

Frasers Installation im Münchner Kunstverein: „Gesellschaft des Geschmacks“  ■ Von Jochen Becker

Im Umgang mit Kunst manifestieren sich Die feinen Unterschiede zwischen Bürger und Prolet. Der Soziologe Pierre Bourdieu widmete seine 900seitige Studie der kulturellen Distinktion: Danach signalisiert demonstrativer Kunstkonsum – genauso wie die Auswahl der Möbel oder der Speisen – die Zugehörigkeit zur Gesellschaft des Geschmacks. Bourdieu zeichnet hierbei die gegenseitige Bedingtheit von „kultureller Kompetenz“ und Klassenzugehörigkeit nach.

Andrea Frasers Installation „Der Kunstverein München/Eine Gesellschaft des Geschmacks“ präsentiert eine Studie über den Vereinsvorstand. Gleich einer Soziologin interviewte die amerikanische Künstlerin alle neun Vorstandsmitglieder über ihre Beziehung zur Kunst als Träger „bürgerlicher Öffentlichkeit“ (so der Leiter des Kunstvereins Helmut Draxler im Katalog). Im Vordergrund steht dabei der Umgang mit Kunst als Indikator für kulturelle und soziale Phänomene, nicht das Werk.

Andrea Fraser komprimierte das mitgeschnittene, transkribierte und ins Englische übersetzte Interviewmaterial, um es anschließend entlang der thematisierten Leitlinien ihres Fragenkatalogs zu gruppieren. Was ihre Studie von der Bourdieus unterscheidet, ist die durchkomponierte Präsentation ihrer Interviews: Der wissenschaftlichen Analyse in Form eines Buchs oder Vortrags zieht sie die Installation eines Vierkanal-Hörspiels vor. Außerdem hat sie exemplarische Bilder aus der Privatsammlung des Vorstands angestellt.

Zwischen Richter-Gemälde und Kollwitz-Skizze – ein Mitglied nennt seine Kunstwerke „Begleitstücke für eine Leidenschaft“ – stehen wie im klassischen Museum zwei gegeneinandergelehnte, moderne Ledersofas. Aus vier Lautsprechern – sie fehlen übrigens auf dem Pressefoto – erklingt im zweistündigen Zyklus eine siebenstimmige Gesprächscollage. Man kann sie im Katalog nachlesen. Dort sind die als M1 bis M9 anonymisierten Mitglieder-Aussagen auf vier Spalten (=Kanäle) aufgeteilt und wie eine Cage-Partitur mit großen Lücken (=Schweigen) zwischen den Absätzen montiert.

Jedes der fünf Kapitel setzt mit dem Statement von M2 an: „We are all members of a, wie sagt man, of a society of taste. That's of good taste.“ Die Künstlichkeit wird noch dadurch gesteigert, daß Andrea Fraser die Mitglieder ihren Originaltext im Studio erneut auf Band sprechen ließ: Gereinigt von Gedankenpausen, Versprechern und Ähs, wiederholen sie ihre eigenen Aussagen hörfunkreif. Nur noch Geschlecht, Dialekt und Artikulationsfähigkeit unterscheidet die Mitglieder der Geschmacksgesellschaft.

Antworten ohne Fragen. Die klinische Kälte von Frasers Institutionskritik und ihre streng einheitlich gehängten Sammlerstücke gehen eine kaum scheidbare Symbiose ein mit den kühl geweißten Räumen, den weit oben liegenden Fensterhöhlen und dem hallenden Betonboden.

Eben diese Gestaltung des Kunstvereins ist das manifeste Ergebnis der „,Revolution‘ vom 14. März 1985“ (Draxler), welche als Trauma in den Gesprächen des jetzigen Vorstands großen Platz einnimmt. Denn es folgte nicht nur die „Bereinigung der Räume“ (M9), sondern mit dem Sturz des vormaligen Direktors Wolfgang Jean Stock eine als Erlösung empfundene neokonservative Wende.

Die ehemalige „Aktivisteninstitution“ (M7) zeichnete sich durch Teppichboden, Sofas, abgehängte Decke, Stellwände und fehlendes Tageslicht aus. Die Mitglieder erinnern sich an den „etwas vergammelten Touch“, das „Muffige“ und „Abgewohnte“ der „Pseudo- Wohnbereichsatmosphäre“. Doch nicht nur der seltsame Geruch, an den einige sich zu erinnern meinen, hatte den Mitgliedern gestunken, sondern vielmehr der Ruf der Institution: man war „ganz unten“ auf der Hierarchieleiter, wurde auf Kunstmessen verlacht und empfand sich als „Schande für München“ (M4).

Entsetzt zeigt sich ein Mitglied über die „bürgerliche Enge“: „die Menschen aus der Vorstadt sollten sich da versammeln, also das fand ich einfach...“ (M7). Kurze Zeit später äußert jedoch ein anderer: „mein Zuhause war sehr eng“ und signalisiert damit die Ersatzfunktion einer Gesellschaft des Geschmacks, welche man gegen die eigene Kleinbürgerlichkeit auszutauschen suchte: „Galeristen, Kritiker, Künstler sind ganz angenehme Zeitgenossen, die haben meist schöne Wohnungen, machen schöne Einladungen, man kann ganz gute Gespräche führen“ (M3).

Die Münchner Untersuchung erscheint als gegenseitige Dienstleistung: Andrea Fraser forscht über den Kunstverein, während dieser ihren Erkundungen Raum, Zeit und Geld zur Verfügung stellt. Fraser wahrt Höflichkeit gegenüber den Auftraggebern, indem sie keine Namen nennt. Trotz Mangel an methodischer Transparenz ist das Transkript der Gespräche unbedingt lesenswert, während die konkrete Installation eher als Anlaß erscheint, sich mit diesen Untersuchungen zu beschäftigen.

Andrea Fraser: „Eine Gesellschaft des Geschmacks“. Kunstverein München, bis 7. März. Katalog 25 DM, über Telefon 089-221152 erhältlich.