Knast für zwölfjährige „Crime Babies“

Großbritannien will Kinder einsperren, um der „zunehmenden Kriminalität“ Minderjähriger beizukommen/ Hauptdelikte: Drogenhandel, Prostitution und Diebstahl  ■ Aus London Antje Passenheim

London (taz) – Er ist ein ausgekochter Dieb, weiß, wie man Autos knackt, wurde unzählige Male verhaftet und wieder entlassen. Er lebte mit einer Prostituierten zusammen. Er raucht, trinkt und kennt sich bestens in der Drogenszene aus. Was ihn allerdings zu einem der berühmtesten Kriminellen Englands machte, ist etwas anderes: Joey ist ein Kind.

Mit elf Jahren wurde er im vergangenen Oktober der jüngste Insasse einer geschlossenen Strafanstalt des Landes. Klagende, ratlose SozialarbeiterInnen und überforderte PolizistInnen hatten keinen anderen Ausweg mehr für den Jungen gesehen, der sich partout nicht bessern wollte. Sie hatten es doch versucht: 35mal hatten sie Joey ins Heim gesteckt, wenn er mal wieder verhaftet worden war – genausooft war er ihnen wieder durch die Lappen gegangen.

Dann geschah etwas bislang Einmaliges: Gesundheitsministerin Virginia Bottomley sah ihre Fürsorgepflicht in der Erstellung der nötigen persönlichen Vollmacht, um das uneinsichtige Kind in einen sogenannten security unit (Sicherheitstrakt) eines Jugendheims zu schließen. Der Fall Joey, der fortan als „geschickter Halunke“, „Britanniens berüchtigtster junger Gauner“ oder „Crime Baby“ in die Mediengeschichte einging, war Wasser auf die Mühlen der Polizeikräfte und VertreterInnen des Innenministeriums, die schon seit geraumer Zeit fordern: Kinder wie Joey gehören hinter Schloß und Riegel.

Straf- und Erziehungsheime für Wiederholungstäter

Nun bekommen sie ihren Willen. Mit einem Gesetz, das es britischen Gerichten ermöglichen soll, Zwölfjährige in Haft zu stecken, will Innenminister Kenneth Clarke künftig dem harten Kern der kleinen GaunerInnen beikommen. „Gedacht ist an Zentren, in denen zwölf- bis 15jährige Wiederholungstäter eine Mischung aus Strafe, Erziehung und Bildung bekommen“, so Charles Keseru, ein Sprecher des Ministeriums, überzeugt davon, daß dies etwas völlig anderes sei als ein Gefängnis. Und er bestätigt seinen Chef in der Feststellung, es gehe eben nicht an, daß „eine kleine Zahl von jungen Straftätern auf unseren Straßen für eine immer größere Zahl an Delikten sorgt“. Keseru spricht von rund 300 Kindern, die das Innenministerium zum harten Kern von „Crime Babies“ wie Joey zählen.

Laut Statistik sind heute über 20 Prozent aller StraftäterInnen in England und Wales jünger als 16 Jahre. 29.000 Kinder zwischen zehn und 14 Jahren wurden 1991 verschiedenster Strafdelikte überführt. Zu Verbrechen wie Diebstahl, Körperverletzung und Vandalismus kommt – gerade in den Elendsgebieten rezessionsgezeichneter Industriestädte wie Liverpool oder Birmingham – immer häufiger das sogenannte joy-riding hinzu – Kinder knacken Autos, um sie anschließend zu Schrott zu fahren oder anzuzünden.

Wie, so fragt der Ministeriumssprecher, soll man die von der Straße bekommen, wenn man sie nach jeder Festnahme gleich wieder auf freien Fuß setzen muß? Nach der derzeitigen Gesetzeslage müsse einE Zehn- bis 14jährigeR schon Mord oder Totschlag begehen, um zu einer Haftstrafe verurteilt werden zu können. Landesweit stehen für diese „Sicherheitsverwahrung“ von Kindern und Jugendlichen 264 Plätze zur Verfügung. Mit fünfzehn Jahren folgt dann der Umzug in die Jugendstrafanstalt.

Bereits jetzt ist die britische Justizordnung eine der strengsten Europas. Während das Alter für Strafmündigkeit in den meisten EG- Staaten bei zwölf bis – wie in der Bundesrepublik – 14 Jahren liegt, ziehen die BritInnen bereits zehnjährige Kinder zur Verantwortung für ihre Straftaten. Darin übertreffen sie lediglich die SchweizerInnen, die das Strafmündigkeitsalter bereits bei sieben Jahren festlegen, jedoch gerade dabei sind, es heraufzusetzen.

Während das Bonner Justizministerium, wie ein Sprecher erklärte, derzeit mit dem Gedanken spiele, in der BRD die Untersuchungshaft für 14- bis 15jährige Jugendliche abzuschaffen, will die britische Regierung künftig Kinder für Handtaschenraub hinter Gitter bringen.

Keseru rechtfertigt das: „Sehen Sie“, meint er, „haben wir nicht alle als Kinder etwas Verbotenes getan und sind dabei erwischt worden? Nach einer Standpauke haben wir eingesehen, daß es falsch war. Doch die Kinder, von denen wir hier sprechen, sind nicht einsichtsfähig, brauchen Hilfe, um auf den richtigen Weg zu kommen.“ Den Kindern, von denen er spricht, kann vielleicht auch anders geholfen werden, meint der Verband der Bewährungshelfer (Association of Chief Probation Officers) in London. In einer aktuellen Studie stellt er eindeutig eine Verbindung zwischen Armut, gestörten Familienverhältnissen und Jugendkriminalität in Britannien her.

Erst wenn der Innenminister den Gesetzentwurf ins Unterhaus eingebracht hat, will sich sein Ministerium zu Einzelheiten äußern. Doch schon jetzt zeichnet sich eine kontroverse Diskussion ab. Nicht nur die Labour-Opposition, so ist abzusehen, wird Clarkes Entwurf ablehnen – auch zahlreiche PädagogInnen und KriminologInnen verwerfen die Idee des Kinder- Knasts. Sie werfen Clarke vor, eine überholte Version der „Bewährungsschulen“ wiedereinführen zu wollen, die erst 1969 in England abgeschafft wurden. 50 Prozent der minderjährigen StraftäterInnen, die in diesen „Besserungsanstalten“ Erziehung und Schulbildung genießen sollten, waren nach ihrer Entlassung wieder rückfällig geworden.

In einem Essay, den der Strafexperte Frances Cook, Direktor der „Howard-Leage for Penal Reform“ im Independent veröffentlichte, erinnert er an drei 15jährige, die in den vergangenen drei Jahren Selbstmord in ihren Zellen in Strafvollzugsanstalten begangen haben. „Wird der Innenminister“, so fragt er, „auch Verantwortung für die ersten Zwölfjährigen übernehmen, die sich in ihren Zellen erhängen?“