Ins Gesunde geschnitten

Rostock ist pleite? Feuern wir den Intendanten  ■ Von Michaela Schlagenwerth und Peter Laudenbach

Kann sich eine Kommune, die kurz vor dem Bankrott steht, Kultur leisten? Die Rede ist von Rostock, aber die Konflikte zwischen Theater und Stadtverwaltung, dürften nur ein erster Vorgeschmack auf die künftigen Grabenkämpfe sein, in denen die ostdeutschen Theater in den nächsten Jahren ihre Existenz werden verteidigen müssen.

Die Finanzlage der Hansestadt ist mit Schulden von 104 Millionen Mark mehr als desolat: Sie laviert am Rande der Zahlungsunfähigkeit und kann keine weiteren Kredite aufnehmen. 1.700 der 6.100 städtischen Angestellten sollen entlassen werden, im Februar konnten die Gehälter nur mit einer einwöchigen Verspätung bezahlt werden. Gespart werden soll jetzt bei Sozial- und Kultureinrichtungen.

Erstes Opfer wurde der Generalintendant des Rostocker Volkstheaters, Berndt Renne. Renne, der das Theater seit Oktober 1990 leitet, hatte am 11. Februar in einem Aushang die Beschäftigten des Theaters darüber informiert, daß sich die Auszahlung ihrer Gehälter durch die Zahlungsschwierigkeiten der Stadt verzögern werde und sie dafür um Verständnis und Geduld gebeten.

Oberbürgermeister Klaus Kilimann (SPD) erkannte augenblicklich Handlungsbedarf: Renne habe den Aushang – mit dem er seiner Fürsorgepflicht gegenüber seinen Mitarbeitern nachkam – nicht mit der Kultursenatorin abgesprochen, weshalb das Vertrauen zwischen Senat und Intendant restlos zerüttet, Renne fristlos gekündigt und mit einem Hausverbot belegt sei. Renne, der gerade mitten in den Probearbeiten zu Büchners „Dantons Tod“ stand, erfuhr aus der Zeitung von seiner Entlassung und protestierte. Das Hausverbot wurde wieder aufgehoben. Ein windigerer Kündigungsgrund läßt sich schwer vorstellen, der Ausgang von Rennes Arbeitsgerichtsklage ist absehbar. Sollte Renne den Prozeß gegen seinen früheren Arbeitgeber gewinnen, wird ihn die Hansestadt ausbezahlen müssen. Das wird, nach dem Ablauf der Hälfte des Vertragszeitraums von fünf Jahren, nicht billig werden. Mindestens 300.000 Mark, knapp geschätzt, dürfte der Rauswurf das leere Stadtsäckel kosten.

Rennes Entlassung waren monatelange Querelen um die Finanzierung des Volkstheaters vorausgegangen. Im Haus verliefen die Fronten zwischen Renne und dem Generalmusikdirektor Michael Zilm, der Renne vorwarf, das Musiktheater stiefmütterlich zu behandeln und am Orchester-Status der A-Kategorie zu sägen (was in der Konsequenz niedrigere Gagen und weniger Planstellen bedeutete). Zilm, der inzwischen gekündigt hatte, ist mittlerweile wieder im Amt.

Entscheidender, wenn auch vom Senat bestrittener, Kündigungsgrund dürfte Rennes Intendantenvertrag sein, der die Sicherung des Drei-Sparten-Betriebes (Oper, Ballet, Schauspiel) und eine Mindestanzahl an Beschäftigten garantiert. Seit Ende Januar verhandelte Kultursenatorin Ulrike Oschwald (FDP) mit Renne über eine Auflösung des Vertrages. Renne widersetzte sich den Plänen, massiv Stellen zu streichen. Die Stellenkürzungen sind nun mit 50 – von 430 auf nun 380 Stellen – noch relativ glimpflich ausgefallen. Ob dies die Schließung einer der drei Sparten zur Folge haben wird, bleibt abzuwarten.

Schon jetzt laboriert das Theater finanziell am Rande des Möglichen: vom Etat 1992 (29 Millionen Mark) sollen 1993 trotz Tariferhöhungen 20 Prozent abgezogen werden – spätestens im Herbst käme so die künstlerische Arbeit zum Erliegen.

Zum Vergleich der Etat eines westdeutschen Drei-Sparten-Hauses: Das Stadttheater Ulm, keineswegs ein besonders üppig ausgestattetes Haus, hatte 1992 einen Gesamtetat von 26,6 Millionen Mark – in einer Stadt von knapp 100.000 Einwohnern. Rostock ist zweieinhalb mal so groß und hatte 1992 gerade 2,4 Millionen Mark mehr, dieses Jahr wird es sogar 3 Millionen Mark weniger zur Verfügung haben.

In diesen Wochen sind die Arbeitsbedingungen am Rostocker Theater abenteuerlich. Man hofft von Tag zu Tag auf einen Scheck der Kommune. Es können keine Rechnungen mehr bezahlt werden, es fehlen die Mittel, Büromaterial zu kaufen (taz-Leser, schickt Carepakete! Spendet Farbbänder, Briefmarken und Büroklammern!). Um eine Premiere zu retten, kauften Mitarbeiter Requisiten mit privatem Geld — in der Hoffnung, es irgendwann vom Theater zurückzubekommen; die auf Honorarbasis engagierten Schauspieler der Produktion „Katzelmacher“ haben seit drei Wochen keine Proben-Gagen erhalten – keines der saturierten westdeutschen Theater würde unter solchen Bedingungen auch nur eine Inszenierung zustande bringen. Inzwischen leitet Kultursenatorin Oschwald das Theater. Nach Rennes Kündigung mochte niemand als Interimschef einspringen. Oschwald zeigte gleich mit ihrer ersten Amtshandlung, wie man vernünftig spart: sie setzte kurzerhand eine geplante Operninszenierung ab. Die Ausladung der Gäste — Regisseur, Bühnenbildner, Kostümbildner, Kapellmeister und drei Sänger waren von außerhalb engagiert worden — dürfte mindestens 100.000 Mark kosten. Gerüchte, wonach der frühere GMD Zilm von der Senatorin als Bedingung seiner Rückkehr an das Haus diese Absetzung verlangt hatte, wurden dementiert, halten sich aber hartnäckig. Gründlicher als mit solchen Manövern kann man ein Theater nicht ruinieren.

Renne, der zuvor als freier Regisseur arbeitete, war als Intendant nicht unumstritten. Er pflegte einen monarchistischen Führungsstil, traf einsame, nicht weiter begründete Entscheidungen und duldete keine starken Partner neben sich, weder einen Chefdramaturgen noch einen Kaufmännischen Direktor. Inzwischen wurde Inge Flimm zur Schauspieldirektorin berufen.

In der überregionalen Presse erregte er während der zweieinhalb Jahre seiner Intendanz keinerlei Interesse für sein Haus. Aber es ist ihm gelungen, mit einem anspruchsvollen Spielplan eine für Ostbühnen beachtliche Platzausnutzung zu erreichen: von 19 Prozent bei Amtsantritt auf 55 Prozent 1992. Das ist für eine Stadt mit hoher Arbeitslosigkeit und ohne breite bürgerliche Schichten, absolut respektabel, zumal Renne sich nicht mit Entertainment ans Publikum anbiederte.

Der Spielplan setzt, neben den unvermeidlichen Musicals und Operetten, auf politisches, stark gegenwartsbezogenes Theater: Im März stehen Stücke von Lothar Trolle und Heiner Müller, Edward Bond und Harald Mueller, Johann Kresnik und Dario Fo auf dem Programm. Auf die ausländerfeindlichen Pogrome reagierte das Theater mit einer Inszenierung von Fassbinders „Katzelmacher“. Nichts wäre in der Stadt der brennenden Asylantenheime und tristen Vorortsiedlungen fataler, als jetzt vom Theater zu verlangen, durch leichte Unterhaltung die Einnahmen zu verbessern und auf provokante Zeitstücke zu verzichten.

Zu befürchten ist, daß der Senat nach einem Intendanten sucht, der genau das, dazu noch billig, verspricht. Renne ging mit einem Knall. Seiner Inszenierung von „Dantons Tod“, die zwei Wochen nach der Kündigung Premiere hatte, sind die Querelen anzumerken. Die Regie ist fahrig und grob. Doch Renne konnte vor seinem Abgang noch einen formidablen Gast ans Haus locken: Nachdem Carol Ann Woodhead, Kresnik- Schülerin, mit dem Rostocker Ensemble „Familiendialog“, ein frühes Tanztheaterstück Kresniks, einstudiert hatte, kam der Meister höchstpersönlich, um die letzte Probenwoche zu leiten: Das richtige Stück zum richtigen Zeitpunkt in der richtigen Stadt. Sein Thema ist die Unfähigkeit zum Gespräch, das Tabu, Konklikte, die die nahtlose Oberfläche des Familienlebens stören könnten, auszutragen. Der Großvater liest Litaneien aus der Bild-Zeitung vor: von neuesten Nachrichten an der Arbeitslosenfront bis zu den Liebespraktiken in deutschen Haushalten. Die Frauen sind stumm, stopfen oder stricken. Der Nazi-Vater verweigert jede Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit. Es wird gearbeitet und nichts gefragt, deutsche Tugenden.

In kurzen Bildern werden die Stadien des Wiederaufbaus gezeigt, Stationen der Verdrängung. Wild schlagen die Tänzerinnen und Tänzer in einer mit Erinnerungsstücken an die Nazizeit übersäten Bühne mit Hämmern auf Steine ein, der Lärm des Wiederaufbaus blockiert jeden Gedanken. Sohn und Tochter (hervorragend: Jerzy Kosjanik und Mariana Erimia) können in der von den Eltern geformten Welt nicht leben, sie ziehen dem Vater die alte Nazi- Uniform über und reißen sie ihm wieder vom Leib. Der Vater (Uwe Czebulla) weiß auf jede Aktion, die nicht Unterwerfung und Anpassung bedeutet, nur mit Gewalt zu antworten und schleudert Mutter und Kinder brutal über die Bühne.

Eine schnelle, abrupte Folge scharf umrissener Bilder: Die Studentenrevolte als Comicstrip: Studenten halten in einer Hand ein Buch, in dem sie brav lesen, mit der anderen halten sie ein Tau und werden von einem Mann im schwarzen Ledermantel als manipulierbare Masse durch den Raum bewegt. Der Ausbruchsversuch von Sohn und Tochter mißlingt: Von den uniform gekleideten Kommilitoninnen werden sie zwischen zwei Plakatwänden mit Konsum- und Wahlversprechen („Erfolg für Deutschland“) zerquetscht.

Die Tochter geht zu den Eltern zurück, der Sohn kämpft weiter, um Anerkennung genauso wie um Veränderung. Jedem Aufbegehren folgt die Niederwerfung. Der Sohn wird in die Psychiatrie getrieben und als geheilt in den Tod entlassen. In einer der bedrohlichsten und eindringlichsten Szenen geistern 14 TänzerInnen wie entseelte Wesen um eine Glasvitrine, in der eine KZ-Uniform aufgestellt ist, heben sie empor und tragen sie in die Bühnenmitte, derweil der Großvater an einer Kreissäge nackte Puppenbabys zerkleinert und sich die abgesägten Extremitäten über die Finger stülpt. Man erkennt das Horrorszenario als Vision des mit einem weißen Laken ans Bett gefesselten Sohnes, der sich am Ende eine Bohrmaschine in den Bauch rammt und selbst in die Vitrine fällt.

Johann Kresnik kam, ohne eine Gage (die für das arme Theater unbezahlbar gewesen wäre) zu fordern, nach Rostock: angewandter Antifaschismus, Arbeit an der Notwendigkeit des Erinnerns in Pogrom-City. Selten wohl reagierte politisches Theater so scharf und aggressiv, so präzise auf die politischen Verhältnisse, das Klima des Prä-Faschismus. Theater nicht als kulinarische Abendunterhaltung, sondern als gediegenes AgitProp-Unternehmen. Drei Tage vor der Premiere wurde die Aufführung mit einem gewaltigen Kraftakt vom kleinen Ballettsaal, für das sie vorgesehen war, für einen Abend auf die große Bühne gehoben, statt 45 standen nun 573 Plätze zur Verfügung und das Haus war voll – bei freiem Eintritt. Die nächsten Vorstellungen waren ausverkauft. Rostocks Oberbürgermeister Kilimann mochte das nicht beeindrucken: Die Stadt ist pleite, da muß auch „ins Gesunde geschnitten“ werden, drohte er letzte Woche dem Theater.

Georg Büchner: „Dantons Tod“. Regie: Berndt Renne, Bühne: F.v. Wangelin. Mit Peter Pagel u.a. Nächste Aufführung: 12.3.

Johann Kresnik: „Familiendialog“. Choreographie, Bühne, Kostüme: Johann Kresnik. Neueinstudierung: Carol Ann Woodhead. Mit Jerzy Kosjanik, Mariana Erimia u.a. Nächste Aufführung: 9.3.