: Hymnisch gefeiert
Ein Gespräch mit Armin Zweite über den Erfolg der deutschen Expressionisten in Paris ■ Von Stefan Koldehoff
In den vergangenen 80 Jahren galt er als müder Abklatsch des französischen Fauvismus und war in den Museen des Nachbarlandes weder vertreten noch Gegenstand vielbeachteter Ausstellungen: der deutsche Expressionismus. Seit Mitte November aber erlebt Paris einen wahren Expressionismus- Rausch. Mehrere hundert Meter lang sind täglich die Schlangen vor dem „Musée d'Art Moderne de la Ville de Paris“, seit dort die große Übersichtsausstellung „Figures du Moderne – L'Expressionisme en Allemagne 1905–1914“ zu sehen ist. Schon nach wenigen Wochen krönten die französischen KunstkritikerInnen das Projekt mit ihrem Preis „Ausstellung des Jahres“. Im gesamten Erdgeschoß des vornehmen Kunsthauses an der Avenue du Président Wilson werden den Franzosen zum ersten Mal in großem Umfang die Werke der Künstlergruppen „Die Brücke“ und „Der Blaue Reiter“ und verschiedener EinzelkünstlerInnen vorgestellt. Zu den OrganisatorInnen der mit Unterstützung des Auswärtigen Amtes nur in Paris zu sehenden Übersichtsschau gehört der ehemalige Leiter des Lenbachhauses in München, Armin Zweite. Der Experte (nicht nur) für den deutschen Expressionismus ist inzwischen Direktor der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf.
taz: Der Wunsch nach einer Übersichtsausstellung zum deutschen Expressionismus kam von Ihren französischen Kollegen. Noch vor nicht allzu langer Zeit hatte André Malraux als französischer Kulturminister gefordert, man solle lieber den Isenheimer Altar als die Werke von Kirchner und Beckmann in Paris zeigen. Worauf führen Sie den Sinneswandel zum jetzigen Zeitpunkt zurück?
Armin Zweite: Es sind möglicherweise mehrere Komponenten, die da zusammenkommen. Einmal ist das Musée d'Art Moderne de la Ville de Paris – und besonders Suzanne Pagé – immer sehr an deutscher Kunst interessiert gewesen. René Block hat dort schon Anfang der achtziger Jahre die große Überblicksausstellung L'art d'aujourd'hui d'Allemagne gemacht. Seitdem gab es Ausstellungen von Gerhard Richter, Anselm Kiefer und anderen. Insofern war immer ein Interesse an der deutschen Kunst vorhanden. Und dann kommt natürlich hinzu, daß man gerade den Expressionismus in Frankreich eigentlich nie richtig wahrgenommen hat. Die verfeinerte malerische Kultur, die Gestalten wie Bonnard oder Matisse verkörpern, war etwas, das die Rezeption des Expressionismus schon erschwert hat. Unter diesen Auspizien mußte die deutsche Kunst als radikal, als brutal, als aggressiv empfunden werden. Ich glaube auch, daß die Versuche, das Phänomen der deutschen Kunst der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts zu erklären, in Paris keinerlei Erfolg hatten. Ende der sechziger Jahre gab es in demselben Haus, das jetzt überrannt wird von Besuchern, eine Beckmann-Ausstellung, in der man absolut allein war. Da drückten sich höchstens ein paar deutsche Touristen und der eine oder andere neugierige Franzose herum. Das wurde gar nicht wahrgenommen – von Dix ganz zu schweigen. Und dann gab es in den sechziger Jahren in Zusammenarbeit zwischen München und Paris eine Ausstellung, in der Fauvismus und Expressionismus untersucht werden sollten. Ich glaube nicht, daß der Expressionismus damals besonders gute Karten hatte. Natürlich gibt es Beziehungen und Beeinflussungen. In Frankreich hat man das aber so verstanden: Die Fauvisten sind die Vorreiter, und die Expressionisten sind die Nachhut. Dann wurde das Terrain aber durch die großen Ausstellungen des Centre Pompidou in den letzten Jahren vorbereitet, insbesondere das von Werner Spies betreute Projekt Paris–Berlin, in dem das Beziehungsgeflecht aufgedröselt wurde und wichtige Werke von Kandinsky, Kirchner und anderen zu sehen waren. Damals ist zum ersten Mal die Eigenständigkeit des Expressionismus bewußt gemacht worden.
Das erklärt aber auch nicht, warum der Expressionismus, der in Deutschland kaum mehr große Aufregung zu verursachen vermag, gerade jetzt in Frankreich so hymnisch gefeiert wird.
Ich glaube, daß die Gründe dafür mehr im Geistesgeschichtlichen liegen. Eine Rolle spielt vielleicht die neuerliche Nietzsche-Rezeption in Frankreich.
Seit einigen Jahren ist zu beobachten, daß ganz im Gegensatz zur Bundesrepublik, wo Nietzsche zwar rezipiert wird, aber keine Kultfigur in dem Sinne ist, sich genau diese Entwicklung bei den französischen Intellektuellen in den letzten Jahren abgezeichnet hat. Nietzsche wurde vor allem von den Künstlern der „Brücke“ stark gelesen. Und manche Sätze, die Schmidt-Rottluff damals formuliert hat, könnten direkt von Nietzsche genommen worden sein. Das wäre ein mögliches Motiv für die neue Bereitschaft in Frankreich, auch auf diese sehr vitalistische Attitüde der Malerei anders als früher zu reagieren.
Die Bereitschaft, über die eigenen Grenzen hinauszuschauen, scheint in Frankreich ohnehin allgemein größer geworden zu sein.
Das ganze 19. Jahrhundert hindurch und bis in die sechziger Jahre hat man ja geglaubt, daß es in der Welt nur eine Stadt der Künste gibt, und die heißt Paris. Und tatsächlich haben sich viele, viele Dinge des 19. Jahrhunderts – von Renoir über Manet und Monet, die Impressionisten bis zum Kubismus und zum Surrealismus – in Paris ereignet; bis zur Ecole de Paris ununterbrochen eine Glanzleistung nach der anderen. Und wenn ein Künstler etwas gelten wollte, dann war der Erfolg in Paris das Entscheidende. Bei Kandinsky kann man das ganz genau nachvollziehen; er hat aus Moskau an Gabriele Münter gechrieben: „Herr Schtschukin hat eine hinreißend schöne Sammlung. Es ist unvorstellbar, welche wunderbaren Arbeiten ich von Matisse und Picasso hier sehen kann. Aber er ist wohl nicht bereit, etwas von mir zu kaufen. Ein großer Erfolg in Paris könnte ihn wohl umstimmen. Aber wie kommt man zu einer Ausstellung in Paris?“ Paris war das Zentrum, man empfand sich auch so. Was außerhalb passierte, war sekundär.
Das hat sich natürlich durch die Entwicklung seit den sechziger Jahren entscheidend verändert. Man kann heute nicht mehr davon ausgehen, daß ganz herausragende und bedeutende Dinge im Sektor der bildenden Kunst in Frankreich oder in Paris geschehen sind. Die Impulse sind seither aus Amerika gekommen und aus Deutschland. Beuys und sein Umkreis haben große Aufmerksamkeit erregt. So gibt es eine ganze Reihe von Gründen, die die Bereitschaft erhöht haben, sich mit der visuellen Kultur des Nachbarlandes auseinanderzusetzen.
Was könnte diese Entwicklung für die Zukunft bedeuten?
Das ist sehr schwer zu sagen. Es kann natürlich die Konsequenz haben, daß es vielleicht eine Folgeausstellung geben wird, die dann zum Beispiel die zweite Stufe des Expressionismus vor Augen führt. Die jetzige Ausstellung endet ja, und darüber könnte man wirklich debattieren, 1914. Aber Kirchner und die anderen haben ja weiter gemalt. Und es gibt etwas wie die Neue Sachlichkeit, Dix, Grosz, Beckmann und andere interessante Phänomene. Viele deutsche Künstler dieser Zeit sind in Frankreich kaum bekannt. Außerdem sind die deutschen Expressionisten in den französischen Museen fast nicht vorhanden. Im Centre Pompidou gibt es einige Werke, aber sie sind nicht ausreichend, um diese Bewegung wirklich in ihrer Breite dokumentieren zu können – abgesehen von Klee und Kandinsky. Museumsreife Bilder von „Brücke“ und „Blauem Reiter“ sind aber inzwischen auch fast nicht mehr zu bekommen, und wenn sie auftauchen, haben sie leider auch einen sehr hohen Preis.
Haben die deutschen Museen die französischen Themen ausreichend bearbeitet, oder gibt es hier ähnliche Lücken, die noch zu schließen wären?
Wir reden jetzt über die erste Hälfte des Jahrhunderts, und da denke ich schon, daß es in Deutschland eine große Bereitschaft zur Auseinandersetzung gab. Viele Museen haben, nicht zuletzt weil Paris so dominierend war, frühzeitig angefangen, sich nach Westen zu orientieren. Denken Sie an Tschudi in Berlin, der, weil er Impressionisten kaufte, von Wilhelm II. rausgeschmissen wurde, nach München ging und dann wieder Bilder dieses Genres kaufte. Denken Sie an den großen Skandal, als in Bremen van Goghs „Mohnfeld“ erworben wurde, an Waldens Engagement für Delaunay, an die Aktivitäten von Paul Cassirer. Und auch nach dem Zweiten Weltkrieg hat es bis heute eine Fülle von Ausstellungen gegeben, die französischen Künstlern oder französischen Bewegungen gewidmet waren.
Wir zeigen in Düsseldorf gerade Bonnard, in Köln wird bald wieder Picasso zu sehen sein, in Tübingen feiert man Cézanne. Es ist immer eine Auseinandersetzung dagewesen.
„Figures du Moderne – L'Expressionisme en Allemagne 1905–1914“. Musée d'Art Moderne de la Ville de Paris, noch bis zum 14. März 1993, Di. bis So. 10 bis 17.30 Uhr, Mi. bis 20.30, Sa. u. So. bis 19 Uhr geöffnet. Katalog: 470 Seiten, mit zahlreichen Farb- und Schwarzweißabbildungen, Verlag Gerd Hatje, Stuttgart, 380Francs.
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