Vernachlässigte Minderheit

Marokkaner kamen in den 60er und 70er Jahren als Arbeiter nach Deutschland/ Probleme hat vor allem die zugezogene zweite Generation  ■ Von F. Lyoubi u. B. Touka

Die Bundesrepublik Deutschland gehört nicht zu den traditionellen Zielländern der marokkanischen Arbeitsmigranten. Sie ist zum einen durch die innereuropäische Fluktuation über Spanien und Frankreich, zum anderen aber auch durch die Tätigkeit der Anwerbekommissionen ins Blickfeld der Marokkaner gelangt. Im Rahmen des Anwerbeabkommens von 1963 nahm die Kommission der Bundesanstalt für Arbeit 1964 erstmals ihre Tätigkeit auf und warb 1.800 Arbeitskräfte für den Steinkohlenbergbau an.

Vor allem Berber aus dem Rif- Gebirge, die weder durch koloniale Tradition noch durch französische Sprachkenntnisse an Frankreich orientiert waren, sind nach Holland und in die Bundesrepublik gezogen. In der Bundesrepublik haben die marokkanischen Arbeitsmigranten allerdings nie große Bedeutung gewonnen.

Neben dem Bergbau ist das Baugewerbe ein Hauptbeschäftigungszweig für marokkanische Arbeitnehmer, beides krisenanfällige Branchen mit hohem Personalabbau, wie die Entwicklung der letzten Jahre zeigte. Die marokkanische Emigration war erheblich stärker als bei den anderen Nationalitäten eine Zuwanderung von Erwerbspersonen. Bis 1972 lag der Anteil von Erwerbspersonen an den Zuwanderern immer über 80 Prozent, 1973 fiel er erstmals auf 78 Prozent. Im Jahr 1972 erreichten die jährlichen Zuzüge von Marokkanern einen zweiten Höhepunkt, da Ende 1971 die Anwerbekommission erneut zusammengetreten war. In den dazwischenliegenden Jahren gab es keine gezielten Nachfragen deutscher Unternehmen nach marokkanischen Arbeitskräften, so daß sich die Migranten dieser Zeit auf eigene Faust in die Bundesrepublik aufmachten.

Die Marokkanermigration ist zu den frühen Einwanderungsbewegungen zu rechnen, was sich in einer langen Aufenthaltsdauer niederschlägt. Diese lange Verweildauer zeigt, daß sich der ursprüngliche Antrieb der Migration, nämlich etwas zu der kärglichen heimischen Existenz auf dem Lande hinzuzuverdienen und nur temporär in der Bundesrepublik zu bleiben, für die wenigsten realisiert hat.

Die Situation der jungen Generation ist erheblich schlechter als die von deren Eltern, besonders wenn man in Betracht zieht, daß etwa 40 Prozent der Marokkaner in der Bundesrepublik unter 20 Jahre alt sind. Die Statistiker sagen, daß der Anteil der marokkanischen Schüler in Frankfurt am Main von 0,74 Prozent in den Jahren 1981/82 auf 3,55 Prozent 1990 gestiegen sei. Dies bedeutet eine Zuwachsrate von 379 Prozent in diesem Zeitraum. Damit liegen sie, prozentual gesehen, an der Spitze der Skala in den Frankfurter Schulen. Es gibt kaum eine Schule oder Jugendeinrichtung in Frankfurt, an der es keinen Marokkaner gibt.

Diese rapide Zunahme ist auf die hohe Geburtenquote und auf die Familienzusammenführung, die noch nicht abgeschlossen ist, zurückzuführen. Auch die seit 1978 geänderte Kindergeldregelung hat zu einem Zuzug marokkanischer Kinder in die Bundesrepublik geführt. Für marokkanische Kinder, die im Heimatland verbleiben, wird seitdem kein Kindergeld mehr gezahlt, so daß viele marokkanische Eltern ihre Kinder nachträglich hierher holten.

Auffallend ist, daß, obwohl die Marokkaner im Vergleich zu anderen Nationalitäten eine Minderheit in Frankfurt darstellen, sie in der Jugendszene verstärkt in den Vordergrund treten, z.B. an den Treffpunkten Hauptwache und Konstablerwache.

Konflikte bringt die Wohnsituation der marokkanischen Familien. Die Wohnungen sind häufig zu klein. Der für Kinder und Jugendliche notwendige Bewegungsraum ist nicht vorhanden. Es kommt hinzu, daß die Kinder und Jugendlichen in der Wohnung meist keine Möglichkeit haben, ungestört Schulaufgaben zu machen, was sich unmittelbar negativ auf die Leistungen in der Schule auswirkt.

Die allgemeine schulische und berufliche Laufbahn dieser Kinder und Jugendlichen ist als unglücklich zu bezeichnen. Ihr Anteil unter den Realschülern und Gymnasiasten hat sich zwar in den letzten Jahren erheblich erhöht, ihr Anteil unter den Hauptschülern bleibt jedoch, angesichts der Gesamtzahl der Ausländer, relativ stark. – Da die Marokkaner als vernachlässigte Minderheit statistisch meistens unter „Sonstige“ erfaßt sind, liegen keine genauen Angaben über ihre Schulabschlüsse vor. Es ist jedoch anzunehmen, daß massivere Defizite vorhanden sind als bei ausländischen Schülern allgemein, was ihre Ausbildungschancen verringert. Aufgrund ihres Schulabschlusses sind sie auf Berufe angewiesen, die von deutschen Gleichaltrigen nicht mehr in Anspruch genommen werden.

Ein weiteres typisches Problem der marokkanischen Schüler stellen die Seiteneinsteiger dar. Es handelt sich um Jugendliche, die in Marokko eingeschult wurden und im Rahmen des Familiennachzuges in die BRD kamen. Diese Schüler verfügen über keinerlei Kenntnisse der deutschen Sprache und werden zunächst in sogenannten Auffangklassen unterrichtet. Soziologisch gesehen bilden sie die Gruppe der „Urlaubskinder“, die nach der Arbeitsemigration ihrer Väter in Marokko geboren sind und vor ihrer Einreise nach Deutschland ihre Väter nur während deren Urlaubsreisen in die Heimat gesehen haben. Sie haben die ersten 10 bis 15 Jahre ihres Lebens in einem anderen Kulturkreis, meist in ländlicher Umgebung und allein mit der Mutter, verbracht. Manche haben enorme Schwierigkeiten, sich in der deutschen Gesellschaft zurechtzufinden, finden keinen Beruf und haben in der „neuen Welt“ fortwährend Probleme mit den Eltern. Finden sich derart Entwurzelte in Gruppen zusammen, bietet sich die Kriminalität als Negativ-Identität an. Besser so eine Identität als gar keine Identität.

Was die in Frankfurt aufgewachsenen marokkanischen Jugendlichen betrifft, werden sie nach Einschätzung der Jugendrichter nicht häufiger kriminell als ihre deutschen Altersgenossen. Allerdings haben sich unter ihnen Banden gebildet. Verbreitet ist vor allem das „Rippen“ (der Jacken- Klau).

Die Mentalität der zugezogenen Jugendlichen und die Tatsache, daß das öffentliche Leben der Südländer sich zum großen Teil auf der Straße abspielt, wird von vielen Deutschen als Fehlverhalten interpretiert. Dies ist mit ein Grund dafür, daß die für marokkanische Jugendliche attraktive Einkaufszone, „die Zeil“, die ein Stück „südländisches Leben“ verkörpert, allgemein als Drogenszene bezeichnet wird, da sich dort viele marokkanische Jugendliche aufhalten. Man hat sie als „Konstabler-Dealer“ etikettiert und abgestempelt, und jede Haschischdealerei bzw. jeder Raub in diesem Bereich geht auf das Konto der Marokkaner. Wie oft hat man in den Zeitungen berichtet, „... dem Aussehen nach könnte der Täter ein Marokkaner sein ...“.

Aus Unkenntnis der Sachlage und der kulturellen Hintergründe führt man hier den Umgang der marokkanischen Jugendlichen mit Drogen oftmals darauf zurück, daß viele Marokkaner aus dem Rifgebiet Nador stammen und dort bereits Erfahrungen im Umgang mit Drogen gemacht haben sollen, da der Konsum und Handel mit Drogen dort legal sei. Leider hört man solche Behauptungen auch oft von den Hütern des Gesetzes.

Was die Lebenssituation insbesondere der marokkanischen Mädchen in Frankfurt anbelangt, so ist diese bekanntermaßen kaum weniger konfliktgeladen als die ihrer männlichen Altersgenossen, sie geraten jedoch nicht nur weniger als diese, sondern auch weniger als deutsche Mädchen im Alter zwischen 14 und 21 Jahren mit dem Gesetz in Konflikt. Dies muß allerdings auch als Konsequenz ihrer Lebenssituation gesehen werden, die ihnen wenig Recht auf Eigenständigkeit sowie Möglichkeiten, sich außerhalb des häuslichen Rahmens zu bewegen, gibt. Während es für marokkanische Frauen der ersten Generation relativ selbstverständlich ist, sich mit der Fortsetzung der herkömmlichen Lebensweise zurechtzufinden, haben es die Mädchen damit sehr viel schwerer, insbesondere wenn sie hier geboren sind oder bereits sehr lange in Frankfurt leben.

Da die in Frankfurt lebenden marokkanischen Familien häufig vom Land stammen, gelten für sie oft noch sehr strenge traditionelle Regeln in bezug auf die Erziehung ihre Kinder, insbesondere die der Mädchen.