„Früher waren sie stolz auf uns“

■ Interview mit dem Frankfurter Soziologen und Übersetzer Mabruk Dargaoui

taz: In der Mainmetropole Frankfurt lebt die bei weitem größte marokkanische Gemeinde in Deutschland. Warum ist die hessische Stadt für die eingewanderten Marokkaner zum deutschen Mekka geworden?

Dargaoui: Frankfurt ist ein Schmelztiegel, damit schon per se ein Anziehungspunkt. Hier gibt es aber auch eine große Konzentration von Marokkanern der ersten Generation, die Ende der sechziger Jahre und in den Siebzigern in Deutschland angeworben wurden. Und das ist wichtig. Wenn ich als Orientale mein Land verlassen will, dann begebe ich mich am liebsten dahin, wo ich jemanden kenne oder es zumindest viele Landsleute gibt. Ob die Stadt besonders interessant ist oder dort die Arbeitsmöglichkeiten besser sind, ist in den Augen der allermeisten Marokkaner zweitrangig. Ohne mir heimische Bezugspersonen werde ich mich in einem fremden Land nicht orientieren können: mir fehlt die Sprache, ich habe Unterkunftsprobleme usw. Das sind die Gründe, warum viele Marokkaner, die nach Deutschland kommen, sich in in Frankfurt niederlassen.

Warum fällt die Präsenz der Marokkaner in Frankfurt, von „Problemvierteln“ wie der Bahnhofsgegend und der Konstablerwache abgesehen, kaum auf?

Die Marokkaner hier leben weitgehend passiv. Sie haben so gut wie keine eigenen Vereine und Institutionen. Sie sind nur wenig organisiert und sie betätigen sich kaum politisch. Ich würde trotzdem nicht sagen, daß sie nicht wahrgenommen wird. Im Gegenteil. Gerade das Stichwort Konstablerwache prägt das Bild der Deutschen heute über die Frankfurter Marokkaner erheblich: und zwar in negativer Hinsicht. Weil in der größten Drogenszene der Stadt viele marokkanische Jugendliche mitmischen.

Sie betonen das Wort „heute“ so entschieden. Wieso?

Weil die Deutschen früher – ich habe es selbst erlebt – auf die Marokkaner hier sehr stolz waren. Die Marokkaner hatten einen exzellenten Ruf. Sie wurden in der Presse immer wieder gelobt und galten als äußerst zuverlässig und äußerst arbeitsam – derart, daß die deutschen Tugenden gegenüber den marokkanischen fast verblaßten. Aber dieses Imagage ist buchstäblich umgekippt. Jetzt verbinden die FrankfurterInnen mit unserem Volk wegen ein paar Jugendlichen nahezu ausschließlich die Drogenszene.

Was treibt marokkanische Jugendliche zum Dealermilieu? Ist es allein das Geld?

Das Dealen ist sicher ein lukratives Geschäft. Aber die Hintergründe, warum einige marokkanische Jugendliche in diese Szene geraten, sind andere. Die meisten von ihnen sind, in der Sprache der Pädagogen, sogenannte Seiteneinsteiger: mit anderen Worten, Jugendliche, die mit 12, 13 oder 16 Jahren von ihren Familien aus der Heimat (Marokko) nach Deutschland geholt werden. Sie werden in diesem Alter regelrecht entwurzelt. Ihre Entwicklung ist noch nicht vollendet: sie haben keine Abschlüsse und keine gefestigte Identität.

In Marokko kannten sie andere gesellschaftliche Bindungen: strengere Regeln, Respekt zum Lehrer, Respekt zum Älteren. Diese ganzen Normen fehlen auf einmal, der Jugendliche verliert den Halt. Er fühlt einen Mangel an Geborgenheit und lebt eine absolute Leere.

Da du als „rohes Material“ in der Luft schwebst, kann dich theoretisch jeder für alles gewinnen. Die falsche Bahn zu erwischen ist dann oft nur noch eine Frage der Zeit. Zudem fehlt es an Anlaufstellen: In ganz Deutschland existiert nur ein „Marokkanischer Freundschaftsverein“, sonst nichts...

Du besitzt schon seit mehreren Jahren einen deutschen Paß. Gehörst du für sie voll dazu?

Ich bin ein Frankfurter par excellence. Die ganze Welt kann ihr Veto dagegen einlegen. Das ist mir egal. Aber ich bin ein marokkanischer Frankfurter. Ich habe mich 22 Jahre lang an der Entwicklung dieser Stadt beteiligt. Ich habe an Häuserbesetzungen teilgenommen und mich in Konflikt mit dem Gesetz gebracht. Ganz Frankfurt ist jetzt stolz darauf, daß diese Häuser nicht der Abrißbirne zum Opfer gefallen sind. Ich habe mich in jeder Hinsicht für Frankfurt eingesetzt. Ich habe was für Frankfurt geleistet. Meine Zugehörigkeit zu Frankfurt lass' ich mir nicht streitig machen. Den deutschen Paß habe ich angenommen, um mit mir selbst im Einklang zu sein und nicht länger politisch unmündig zu bleiben. Interview: Franco Foraci