Im Osten ist jeder dritte Arbeitsplatz verloren

■ Regionale Unterschiede bei Arbeitsplatzabbau und Pendlern

Nürnberg (taz) – Drei Jahre nach dem Fall der Mauer bringen Arbeitsmarktforscher langsam Licht ins Dunkel dessen, was mit „Strukturwandel in den neuen Ländern“ beschrieben wird. Die für alle fünf Länder nahezu gleich hohen Arbeitslosenzahlen täuschen darüber hinweg, daß sich mehrere Problemgebiete herauskristallisiert haben und sich der Strukturwandel mit ungleicher Geschwindigkeit vollzieht.

In einer internen Beratungsvorlage kommt Martin Koller von dem der Bundesanstalt für Arbeit angegliederten Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) auf einen durchschnittlichen Arbeitsplatzverlust seit dem Fall der Mauer bis Mitte 1992 von 36,6 Prozent. „Auf derartige Erosionsprozesse ist keine Bevölkerung genügend vorbereitet, auch kein wirtschaftspolitisches System“, schreibt der Arbeitsmarktforscher.

Koller stellt fest, daß das tatsächliche Ausmaß des Arbeitsplatzabbaus „nur zu einem Bruchteil in den offiziellen Arbeitslosenquoten gespiegelt“ werde. In der Tat liegt Sachsen-Anhalt mit 14,5 Prozent im Dezember 1992 nur unwesentlich über dem Ost-Durchschnitt (13,9). Ohne ABM und Kurzarbeit sähe die Lage aber düsterer aus, denn mit 40 ABM-Beschäftigten pro 100 Arbeitslose liegt man dort weit über dem Schnitt (32). Das wegen seiner angeblich exzessiven Arbeitsmarktpolitik gescholtene Brandenburg kommt gerade auf 29 ABM pro 100 Arbeitslose und liegt damit weit hinter Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen.

Doch auch diese Zahlen täuschen über starke regionale Unterschiede hinweg. Von Ende 1990 bis Mitte 1992 ging der Arbeitsplatzabbau mit unterschiedlichem Tempo vor sich: Die Verlustraten streuen zwischen minus 30 Prozent in Halberstadt, Annaberg, Nordhausen, Suhl, Neuruppin, Zwickau und Riesa und minus 16 Prozent in Dresden. „Während sich also die Verlustraten der einzelnen Bundesländer kaum voneinander unterscheiden, bestätigt sich hier die relativ früh formulierte Befürchtung, daß sich schon in kürzester Zeit krasse Unterschiede zwischen den Regionen herausbilden werden“, heißt es. Aufschluß über das reale Ausmaß des Defizits an normaler Beschäftigung bietet die Unterbeschäftigungsquote, d.h. der Anteil der Summe der Arbeitslosen, ABM-Kräfte, Umschüler, Kurzarbeiter, Altersübergangsgeldbezieher, Vorruheständler und Auspendler an den Erwerbspersonen. Der Durchschnitt lag im Dezember bei 35,9 Prozent. Mit „nur“ 31,2 Prozent sieht es in Dresden am besten aus, mit über 40 Prozent rangieren die Arbeitsamtsbezirke Neubrandenburg, Neuruppin, Dessau, Halberstadt, Sangerhausen, Annaberg, Riesa, Zwickau, Gotha, Nordhausen und Annaberg in Thüringen (57,6 Prozent) am Ende der Skala.

„Ein Gutteil der unterschiedlichen Entwicklungsdynamik in den neuen Bundesländern ist auf die ,funktionale räumliche Arbeitsteilung‘ vor der Wende zurückzuführen“, folgert Martin Koller. Die Werftindustrie im Norden, die Stahlstandorte und die Kohlereviere, die Kali-Industrie in Thüringen, die Chemiezentren in Sachsen-Anhalt mit 45 Prozent der Chemiearbeitsplätze in der Ex- DDR und die Textilindustrie in Sachsen mit 70 Prozent der ehemaligen Textil-Arbeitsplätze prägen die regionale Entwicklung.

Auch in den Wanderungs- und Pendlerbewegungen gibt es starke regionale Unterschiede. Seit dem Fall der Mauer sind bis Mitte 1992 insgesamt 700.000 Menschen im erwerbsfähigen Alter in den Westen umgesiedelt, dazu kommen 460.000 Auspendler. Die stärksten Abwanderungsverluste haben Halle und Dresden mit 10,1 Prozent zu verzeichnen. Die relativ grenznahen Gebiete finden sich am Ende der Skala. B. Siegler