Gegengift mit Kaderwelsch

■ Ein Leipziger Verlag hat sich der Vergangenheit von DT64 verschrieben

Pünktlich zum Start der ORB- Jugendwelle „Fritz“ erscheint das erste Bändchen beim neugegründeten Leipziger Thom-Verlag: „DT64 – das Buch zum Jugendradio“, eine Aufsatzsammlung zur Geschichte des Senders, die zum großen Teil von DT-Ehemaligen geschrieben worden ist. So berichtet Kalle Neumann, der erste Moderator, von den Anfängen nach dem FDJ-„Deutschlandtreffen“ 1964 (daher der Wellenname) und der Zeit bis zum ZK-Plenum 1965. Auf diesem Plenum erkannte Erich Honecker, daß die auf DT64 gespielte Musik westlich-dekadent sei. Nach seiner Bemerkung sprach man auch bei DT64 „Kaderwelsch“.

DT64 war, wie alle Jugendfunkmedien der DDR (wie ursprünglich auch „Elf 99“) als Gegengift geplant: Die Hörer sollten vom Westsender weg- und zum Ostsender hingefunkt werden. Dies sollte vor allem mit westlichen Musiktiteln gelingen, die in anderen DDR- Sendern nicht gespielt werden durften und die – so das Kalkül – die Agitation und Propaganda verdaulicher machen sollten. Doch das ging schief. Die Musik wurde auf eine Kassette kopiert. Sie wirkte als medialer Fluchthelfer in den Westen, gegen den die Berichterstattung ja eigentlich immunisieren sollte. Letztere bot das Gewohnte. Ehrenbanner, „junge Neuerer“ und der Fackelzug der Blauhemden; öde Erfolgspropaganda, sozialistischer Realismus auf UKW: auch so etwas gehörte früher zu DT64. Alexander Osang tritt deshalb einer Mythenbildung entgegen: „Jugendradio hat die Botschaften lustiger verpackt als das ,Neue Deutschland‘, nicht mehr. Weil nicht mehr drin war.“ Die (Ex-)Redakteure bestreiten das auch gar nicht. Sie widerstehen der Versuchung, ihre Biographie zum Heldenepos umzustricken.

Daß auch bei DT64 der unabhängige Journalismus nicht vom Himmel fiel, beschreibt Reporter Lutz Deckwerth. Er hatte 1990 eine Reihe von FDJ-Chefs um Eberhard Aurich wiederentdeckt. Die sozialistische ,Machertruppe‘ war zur florierenden Unternehmensgruppe mutiert, hatte mit Geldern und Immobilien des Jugendverbandes Konzertagenturen gegründet.

Während des Golfkrieges suchte die Redaktion per Inserat Söldner „für Sabotageakte, bei denen auch Zivilisten getötet werden könnten“, wie man den Bewerbern gleich beim Vorstellungsgespräch klarmachte. Der Andrang war trotzdem groß. NVA- und Stasi- Offiziere ohne Marschbefehl suchten eine neue Herausforderung. Ihr Motiv: Den Wessis von der Bundeswehr zu zeigen, daß sie auch ,was können‘. Selbst in den USA erregte die Reportage Aufsehen, doch intern gab es Kollegenschelte: Ob er nun bei DT64 den Sensationsjournalismus einführen und Wessi-mäßig die DDR-Bürger herunterputzen wollte, wurde der Journalist gefragt. Auch in diesem Fall verzichtet das Textbuch darauf, die Vergangenheit zu verkleistern.

Christoph Dieckmann spricht in seinem Text denn auch von einem „Wandel mit Charakter“. Für ein Publikum, das die Stärken „und die Fehler des Radios teilte“, so Dieckmann, wurde DT64 zum Orientierungsmedium, zum Bestandteil der ,DDR-Identität‘. Für die Macher hat sich dieser ,Charakter‘ nicht ausgezahlt. Der Rundfunkbeauftragte der Bundesregierung, Rudolf Mühlfenzl (CSU), fand sie „zu unausgewogen“. In den biographischen Angaben heißt es jetzt bei vielen: „Seit 1993 freiberuflich.“ Lisa Steger

Andreas Ulrich, Jörg Wagner (Hrsg.): „DT64 – Das Buch zum Jugendradio 1964 - 1993“. Thom-Verlag, 238 Seiten, 24.80 DM