: Ein Tag im Ramadan in Kairo
Im muslimischen Fastenmonat folgt das Leben einem anderen Rhythmus: Festessen, Feiern und Gebete ■ Aus Kairo Khalil Abied
Langsam und behäbig schreitet der alte Mann durch die engen, verwinkelten Gassen des Darb Al-Ahmar in der fatimidischen Altstadt Kairos. Ein schäbiger, tiefschwarzer Mantel schützt ihn vor der nächtlichen Kälte des ausklingenden Winters. Mit den Fingern der rechten Hand schlägt er auf eine kleine Trommel, die er unter seinen linken Arm geklemmt hat. Vor jedem Haus verharrt er kurz und ruft in einem singenden Tonfall: „Schläfer, wach auf! Sagt nur, es gibt keinen Gott außer Allah. Wacht alle auf, zum suhur. Der Prophet Mohammed wird euch besuchen.“ – Der alte Mann heißt Abu Hassan und übt seit vierzig Jahren den seltenen Beruf eines masaharatis aus, eines Aufweckers. Wir sind im Ramadan, dem Fastenmonat der MuslimInnen. Dreißig Tage lang dürfen die Gläubigen von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang weder Essen noch Trinken. Auch das Rauchen und der Geschlechtsverkehr sind in dieser Zeit verboten. Das Fasten ist neben dem Glaubensbekenntnis, dem fünfmaligen täglichen Gebet, der Spende für die Armen und der Pilgerreise nach Mekka eine der fünf Säulen des Islam. Bevor das täglich Fasten beginnt, weckt der masaharati die Gläubigen zum suhur, einem schnellen Frühstück vor Sonnenaufgang. Mit der Stimme des masaharati beginnt der Ramadan, und mit seiner Stimme endet er.
„Ich bekomme kein Geld für diese Arbeit“, sagt Abu Hassan, „abgesehen davon, was die Leute mir freiwillig geben. Der masaharati muß immer ein Kind des Viertels sein und einen guten Ruf als anständiger Mensch genießen. Jeder masaharati hat einen genau festgelegten Bezirk, in dem er die Leute weckt.“
Abu Hassan hat seinen Beruf von seinem Vater „geerbt“. Und bei seinen nächtlichen Rundgängen wird er von seinem zwanzigjährigen Sohn Ahmad begleitet, der eine Taschenlampe und eine Liste mit den Namen aller Bewohner des Viertels dabeihat. Denn alle wollen persönlich geweckt werden, und Abu Hassan kann sich die mehr als tausend Namen nicht alle merken. Besonders laut ruft er die der Kinder, denen es Spaß macht, wenn der masaharati ihre Namen ruft.
Aber die Traditionen sind in der ägyptischen Hauptstadt nur noch innerhalb der alten Mauern lebendig. In den neueren Wohnvierteln von Kairo, da, wo die Betontürme wie Pilze aus dem Boden schießen, verlassen sich die Leute lieber auf ihre japanischen Wecker.
Zum Frühstück versammelt sich die achtköpfige Familie von Abu Ahmad, dem Geflügelhändler des Viertels, auf dem Boden um den tabliah, einen niedrigen, runden Holztisch. Darauf stehen Messingschüsseln, gefüllt mit ful, Pferdebohnen, Eier und tamia, in Fett ausgebackene Buletten aus Bohnenpüree. „Alle, Arme und Reiche, essen ful und tamia, weil das satt macht und lange vorhält“, erklärt Abu Ahmad. Nach dem Essen trinkt die ganze Familie verdünnten Joghurt. „Das verhindert, daß man den Tag über Durst bekommt.“
Im Ramadan folgen die Tage einem eigenen Rhythmus. Der Fastenmonat teilt den Tag nicht in 24 Stunden und die Stunde nicht in 60 Minuten. Morgens kommt der Büroangestellte mit geröteten Augen verspätet zur Arbeit, sitzt gähnend an seinem Schreibtisch, packt um 12 seine Aktentasche und entschuldigt sich damit, daß er jetzt schlafen gehen müsse. An den Schulen und Universitäten beginnt der Unterricht eine Stunde später und endet zwei Stunden früher. Die BürgerInnen, die das ganze Jahr über die staatliche Bürokratie schimpfen, sind plötzlich tolerant, wenn der Beamte sagt: „Ich habe Ihren Auftrag noch nicht bearbeitet. Ich faste – Gott sei es gedankt.“
Am Nachmittag beginnen die kleinen Fluchten vor Hunger und Durst. Manche versuchen, sich mit Fernsehen und Videofilmen abzulenken. Aber das verbreitetste Mittel ist der Schlaf. Nur den Frauen ist er nicht vergönnt. Mit der Vorbereitung des iftar, der Mahlzeit, mit der abends das Fasten gebrochen wird, tragen sie die Hauptverantwortung – und die Hauptlast.
Das iftar ist ein tägliches Festessen. Manche Familien sparen das ganze Jahr lang, damit sie in diesem Monat das auftragen können, was sie sich sonst vom Munde absparen müssen. Verwandte, Freunde, Nachbarn und Kollegen werden eingeladen; Politiker bewirten ihre Klientel bei den Banketten in den großen Hotels. Auch die christlichen Kopten feiern mit. Sie bitten ihre muslimischen Nachbarn zum Essen oder werden selbst eingeladen.
Am Abend hängt die ganze Stadt vorm Fernseher oder dem Radio, wo die AnsagerInnen das Gebet zum Sonnenuntergang und damit das Ende des Fastentages ankündigen. Viele sitzen bereits vor dem gedeckten Tisch, wenn das erlösende Wort kommt. Busfahrer bremsen abrupt und halten an, um schnell einige Löffel Suppe aus einer abgedeckten Plastikschüssel zu sich zu nehmen, die sie sich vorher in einer der billigen Imbißbuden gekauft haben.
„Im Namen Gottes, des Barmherzigen, Gott sei's gedankt!“ Mein Gastgeber Hassan, seine Frau, Mutter, Schwester, Schwiegermutter und sein Bruder greifen erleichtert zu einem Glas Tamarindensaft. „Schon der Prophet – Gott bete für ihn und segne ihn – mochte dieses Getränk besonders gerne“, sagt Huda, Hassans Frau. Besonders Strenggläubige folgen dem Beispiel Mohammeds, um den ersten Hunger zu stillen, und verzehren lediglich einige Datteln, ehe sie beten und sich anschließend an einem bescheiden gedeckten Tisch niederlassen.
Bei Hassans Familie geht es weniger bescheiden zu. Eine Suppe öffnet den Magen, dann folgten Makkaroni, Steaks, ein gegrilltes Hähnchen, ein Zucchini-Auflauf und zum Nachtisch Obst und kunafe, eine Art Grießkuchen. Anschließend serviert Hassans Mutter eine Kanne frischen Pfefferminztee, und seine Frau bereitet die schischa, die Wasserpfeife, vor. Nun, gesättigt und gestärkt, kann man sich ins Nachtleben stürzen, in den Khan Al-Khalili, ein verwinkeltes Basar-Viertel neben der Hussein-Moschee, die nächtliche Hauptstadt des Ramadan.
Langsam füllen sich die Kaffeehäuser mit Kunden, die Domino, Backgammon oder Karten spielen. Ein freier Platz ist kaum zu finden. Familien bummeln bis spät in die Nacht ziellos durch die Gassen. Jugendliche mit Trommeln und Tamburins singen und tanzen auf dem Platz vor der Moschee. Jemand hat einen Videoapparat aufgestellt und führt Boxwettkämpfe vor.
Aus einem der Volkscafés hinter der Moschee dröhnt Musik. Auf engstem Raum drängen sich über 150 ärmlich gekleidete Menschen um eine Musikgruppe auf einer winzigen Bühne. Eine unsichtbare Barriere trennt Männer und Frauen. In den kurzen Unterbrechungen zwischen den einzelnen Auftritten der Musiker reichen die ZuschauerInnen Geldscheine und kleine Zettel hoch, auf die sie Grüße für Freunde und Verwandte aufgeschrieben haben. Ein Gast stammt aus Libyen: für 20 Pfund, umgerechnet etwa 10 Mark, läßt der Sänger in seinem Auftrag das libysche Volk und seinen Führer Ghaddafi hochleben. Etwas schüchtern schiebt sich eine Frau nach vorne und bestellt ein Lied für ihren Ehemann. Zusammen mit dem Sänger singt sie Happy birthday to you, ya habibi, oh mein Lieber.
Eine Gasse, nicht weit vom Khan Al-Khalili entfernt, hat mittlerweile weltweite Berühmtheit erlangt: die Middaq-Gasse, nach der ein Roman des ägyptischen Literatur-Nobelpreisträgers Nagib Mahfouz heißt. An diesem Abend ist sie mit roten Plüschteppichen ausgelegt. In den kleinen Läden rechts und links wird kostbarer Silberschmuck verkauft, Webteppiche, Spielzeugkamele aus Leder, Menschen strömen durch die Gasse, die Händler haben Hochkonjunktur.
Aber es gibt auch einen anderen Ramadan, den der Reichen, die befürchten müssen, sich im Khan Al-Khalili die Schuhe dreckig zu machen, aber dennoch etwas Volkskultur schnuppern wollen. Sie feiern im Sheraton-Hotel auf der Nilinsel, wo alljährlich ein Ramadan-Spektakel mit zahlreichen Folklore-Gruppen veranstaltet wird. Aber auf eines müssen sie während des Fastenmonats verzichten: die halbnackte Bauchtänzerin.
Doch nicht jedem steht der Sinn im Ramadan nur nach weltlichen Freuden und Genüssen. Um 8 Uhr abends, zwei Stunden nach Sonnenuntergang, strömen Tausende von Menschen aus der Metrostation Margirgis. Bärtige, Jugendliche in T-Shirts, Frauen im Tschador, andere in Rock und Bluse, die sich beim Gehen ein Kopftuch umbinden. Alle haben ein Ziel: die „Amr Ibn Al Ass“-Moschee. Durch zwei Tore betreten sie die mit Teppichen ausgelegte Säulenhalle, rechts die Männer, links die Frauen. Sie kommen zum tarawih- Gebet, ein besonderes Gebet, das nur im Ramadan gesprochen wird. Die Zahl der ruka, der Beugungen, ist nicht begrenzt, und manche bleiben die ganze Nacht über bis zum suhur in der Moschee, beten, meditieren, lesen im Koran. Für manche strenggläubige Muslime haben die Festessen und Feiern nichts mit dem eigentlichen Sinn des Ramadan gemein. Für sie ist der Ramadan der Monat, in dem man Gott näherkommt.
„Ramadan ist der schahr al barakat, der Monat des Glücks und der guten Taten“, sagt der Mufti von Ägypten, Sayed Tantawi. Er ist der höchste islamische Richter des Landes und gibt die fatwas, religiöse Rechtsgutachten, heraus. „Während des Ramadan hat Gott dem Propheten Mohammed – Gott bete für ihn und schenke ihm Frieden – den Koran offenbart“, erläutert er die Bedeutung des Monats. „Im Ramadan fand die Badr-Schlacht statt, in der die Muslime trotz ihrer militärischen Unterlegenheit mit Gottes Hilfe über ihre Feinde siegten. Und in der Fath-Schlacht gelang es dem Propheten und seinen Anhängern, Mekka, die Geburtsstadt Mohammeds, aus der er zuvor vertrieben worden war, zurückzuerobern. Damit hielt der neue Glaube auf der ganzen arabischen Halbinsel Einzug und breitete sich von dort in andere Regionen aus.“
Zurück zum Khan Al-Khalili. In wenigen Minuten werden die ersten Sonnenstrahlen am Horizont hervorbrechen. Die Kellner der kleinen Restaurants versuchen, letzte Kunden anzuwerben, bevor der Gebetsruf der Moschee den Beginn eines neuen Fastentages ankündigt. Schnell schlingen sie ihr suhur in sich rein. Einige Kunden inhalieren die letzten Züge aus der geliebten Wasserpfeife, wie ein Romeo, der sich vor dem ersten Ruf der Lerche von seiner Julia verabschieden will.
„Allahu akbar, allahu akbar, hayat alla asalat“, Gott ist groß, auf zum Gebet, ruft der Muezzin. Noch eine Pflicht, das Morgengebet. Dann schläft die Stadt.
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