Im Süden nicht vermittelbar

Die Neuauflage der Barschel-Affäre in Kiel verbittert die Nord-SPD zutiefst/ Engholm und seine Mannschaft fürchten Störmanöver aus Bonn  ■ Aus Kiel Bascha Mika

„Bitte, geben Sie den Blick auf die Herren und Damen Abgeordneten frei!“ Die schleswig-holsteinische Landtagspräsidentin scheucht die Fotografen und Kameraleute an den Rand des Plenarsaales. Auf der Bühne des Landesparlaments soll ein Stück gespielt werden, dessen Fragmente der Öffentlichkeit vor knapp zwei Wochen vorgestellt wurden. Doch noch können sich die Akteure nicht auf das Genre einigen. Was soll es geben? „Der gute Günther“ – eine Groteske für drei Männer – oder „Der böse Björn“ – eine Politschmiere für Landesfürsten, Hofleute und einen Haufen Statisten? Ist es ein neues Stück oder nur die Neuinszenierung eines alten Dramas?

Fünf Jahre hielt die dünne Decke, die in Schleswig-Holstein über den dreckigen Machenschaften des ehemaligen Ministerpräsidenten Uwe Barschel lag. Jetzt ist sie weggezogen. Der Untote geistert wieder an der Förde. Kein Mensch weiß, was er noch glauben soll oder darf. „Südlich der Elbe ist das, was hier passiert, nicht vermittelbar“, heißt es laut SPD-Sprachregelung. Nach der unfreiwilligen Beichte Sozialminister Jansens – mit Unterstützung des Engholm- Gehilfen Nilius und einigen zigtausend Mark für die Butter auf dem Brot des Barschel-Referenten Pfeiffer gesorgt zu haben – zeigt sich alter, unversöhnlicher Groll. Die einen glauben, auch weiterhin Anspruch auf die Opferolle zu haben und nehmen jeden Hinweis auf eine mögliche (Mit-)Täterschaft übel. Die anderen wollen jetzt endlich auch mal ein bißchen Opfer und nicht mehr nur Täter spielen.

„Alles was mit Barschel zusammenhängt“, erzählt einer aus der SPD-Fraktion, „ist absolut unaufgearbeitet. Da gab es so viele Wunden, so viele Verletzungen, die wir nur verbunden, aber nie haben ausheilen ließen. Jetzt bricht alles wieder auf.“ Und nicht nur bei der SPD. Daß die Sozis nach der Diffamierungskampagne aus Barschels Staatskanzlei 1988 die Regierung übernahmen, können die Christdemokraten bis heute nicht verwinden. „Man verschätzt sich, wie dünn das Eis ist“, sagt CDU-Fraktionsvorsitzender Ottfried Hennig. „38 Jahre lang regiert und dann auf eine schmale Oppositionsrolle verwiesen...“

Welche aktuelle Inszenierung jetzt in Kiel zu sehen ist, scheint dem Oppositionsführer klar. Bei der Sondersitzung des Landesparlaments, das sich auf einen Auftrag für den Untersuchungsausschuß zum Komplex Jansen/Nilius/Pfeiffer einigen soll, sagt der Mann mit dem Charme eines Finanzbeamten: „Dieser Stoff eignet sich für eine zweit- oder drittklassige Krimiserie.“ Er blickt auf seinen Widersacher Engholm, doch der blickt nicht auf. Vergraben zwischen mürrischen Falten, eingekapselt wie ein Krebs, hat der Ministerpräsident nur Augen für seine Akten. Dann fährt Hennig fort, und bemüht sich sichtlich – aber vergeblich – um einen emphatischen Ausdruck im starren Gesicht: „Sie, Herr Ministerpräsident, sind jetzt selbst im Zentrum eines Polit-Skandals.“ Man wolle die Barschel-Affäre nicht neuschreiben, jedoch das bisher vernachlässigte Kapitel „Engholm“ hinzufügen. Doch Engholm blickt noch immer nicht auf.

Da konnte Landtagspräsidentin Erdsiek-Rave zum Auftakt der Sitzung am Mittwoch noch so mahnen, „mit den parlamentarischen Instrumenten sorgsam umzugehen und das Vertrauen in die Demokratie zu stärken“. Hatten sich die Parteien nach der Barschel-Affäre vier Jahre im zivilen Umgang geübt, wetzen die Fraktionen seit der Landtagswahl 1992 wieder die Messer. Denn seit dem ist alles schwieriger an der Förde: Engholm versucht den Spagat zwischen Bonn und Kiel, das Geld ist wesentlich knapper als in der vorherigen Legislaturperiode. Da wittert die Opposition Morgenluft und der Druck auf die Regierung wächst.

„Doch so eine schlimme Sitzung wie heute haben wir seit Barschel nicht mehr erlebt“, klagt man am Mittwoch vor den Türen des Plenarsaales. Und die empfindlichen Sozis, als würden nicht auch sie zu der miesen Stimmung beitragen, ziehen für sich den Schluß: „Bei der CDU hat sich nichts geändert. Dieselbe Schlammschlacht wie früher.“ Es wird gehöhnt, unterbrochen, dazwischengerufen. Das Plenum gleicht einer außer Rand und Band geratenen Schulklasse. Die Abgeordneten der DVU, sonst eher mit Mißachtung gestraft, werden gereizt angegangen. Selbst Karl Otto Meyer, einziger Vertreter des Südschleswigschen Wählerverbandes und bekannt im Land für seinen gesunden Menschenverstand, fällt aus der Rolle und brüllt den DVU-Abgeordneten Stawitz an: „Das Wort Flegel ist noch zu gut für Sie!“

Als SPD-Fraktionsvorsitzender Gert Börnsen dem Genossen Jansen das „volle Vertrauen“ ausspricht, klingt er noch ruhig. Doch kaum wendet er sich an die CDU wird er kalt und auf stille Art wütend. Noch Tags zuvor hatte er – um sich beißend wie ein in die Falle gegangener Fuchs – verkündet: „Wir haben Grund, einigermaßen aggressiv zu sein.“

Besonders der bärtige Börnsen ist durch die Affäre ziemlich aus dem Gleichgewicht geraten. Die Nachricht, daß dem Kieler Justizministerium und der Staatskanzlei ein Schreiben der Staatsanwaltschaft über Geldzahlungen an Pfeiffer „aus einem SPD-Fonds“ vorgelegen hatten – und Chef Engholm mündlich informiert worden war – erwischte ihn kalt. Er erfuhr es durch einen Journalisten. „Börnsen fiel regelrecht in sich zusammen“, erzählt der Kollege. Noch einige Tage vorher hatte die gesamte Kieler Riege abgestritten, jemals Wind von Jansens Samariterdienst bekommen zu haben. Jetzt geht die Angst um vor neuen Schreiben. Erst recht, seit das Gerücht durch das Landeshaus geistert, der für die Genossen so schädliche Hinweis sei von der Bonner SPD lanciert worden.

Seit Jansens Erklärung für seine gute Tat stauen sich im Kieler Landeshaus häßliche Gefühle. Nervosität, Aggression, Häme. „Die Jansen-Geschichte ist außerordentlich merkwürdig und auch nördlich der Elbe nicht vermittelbar“, stellt CDU-Sprecher Sanders über seinem runden Bauch fest und ergänzt nicht ohne Befriedigung: „Die Stimmung bei der SPD ist relativ unangenehm.“ Doch dann winkt er scheinheilig ab: „Es geht bei uns nicht um Rache.“ Auch wenn man alte Kränkungen, wie die Mißachtung der SPD gegenüber dem „CDU-Erneuerer“ Hennig beim Wahlkampf 1992 nicht vergessen habe. „Das sitzt tief.“

„Überaus unerfreulich“ sei die Situation, seufzt einen Stock tiefer SPD-Regierungssprecher Rink, der seinen Sylt-Urlaub nach Jansens Enthüllung „noch vor dem Frühstücksei“ abbrechen mußte. Tief in den Sessel gedrückt spitzt er den Mund wie sein Meister Engholm und konstatiert, daß es natürlich ein „eklatantes Fehlverhalten“ Jansens gegeben habe, doch der Verdacht, die 40.000 Mark stammten aus einer SPD-Kasse, sei absurd. „Da grinsen doch alle Schatzmeister ergriffen.“

Rinks Hände flattern über den Tisch, zupfen hier, schieben dort, bevor er gereizt fortfährt: „Jetzt versucht die CDU, das Koordinatensystem der damaligen Affäre zu verschieben. Engholm fragt sich inzwischen, ob er sich damals den Aids-Verdacht selbst angehängt hat.“ Mit Hilfe aus Bonn wolle die Nord-CDU ihn doch nur als Kanzlerkandidaten demontieren.

Wird Engholm diesen Skandal überleben?“

Ja!“

Als was?“

Als Engholm!“

Und als Kanzlerkandidat?“

Ich denke, auch als Kanzlerkandidat.“

Auch Fraktionssprecher Börnsen macht wie die übrigen SPDler auf vollkommen weiße Weste. Vor dem Landtag versetzt er: „Es gibt keine dreckige Wäsche in der Politik in Schleswig-Holstein, sondern nur Urteile und Vorverurteilungen.“ Nur aus „parteitaktischen Gründen“ trete die CDU eine „Schmutzkampagne“ gegen den Kanzlerkandidaten los. – Der Kandidat selber steht grade und ohne sichtbare Regung am Rednerpult. Doch die Kontrolle wirkt mühsam. Schneidend spricht auch er von „eiskalten Vorverurteilungen“ Jansens, der Anspruch auf „Menschlichkeit und Anstand“ habe. Mit keinem Wort geht der Ministerpräsident auf die Vorwürfe ein, tiefer als bisher bekannt, im Sumpf zu stecken. Nur kurz rechtfertigt er, warum er an Jansen festhalte. Ein ganzes Stück länger zieht er die Parallelen zum alten Barschel-Skandal, die die ganze Verstrickheit der alten mit der neuen Affäre deutlich machen. Es werde vieles aus der alten Zeit lebendig, sagt Engholm, der sonst so erbarmungslose Friedensstifter latent aggressiv. „Doch die psycho- physische Demolierung einer Partei und Person wird ihnen auch diesmal nicht gelingen.“

Allerdings ist es bereits gelungen, dem Strahlemann den Glanz zu verwischen. Nach dem Desaster der Hessenwahl und Engholms Weigerung, Jansen als Sozialminister zu entlassen, meldeten sich seine Widersache im Bonner Flachbau wieder lautstark zu Wort. Von der alten „Führungsschwäche“ und „Unentschiedenheit“ ist die Rede, und nicht nur die Presse diskutiert bereits Alternativen zum Kandidaten aus dem Norden. Hinzukommen die Parteilinken, die ihm sein Paktieren mit Kohl, sei es beim Asylrecht oder dem Solidarpakt, schon lange übelnehmen. Statt Alternativen zur Regierungspolitik zu bieten, verschleudere Engholm den Ruf der SPD durch Anpassung an den Kanzler.

Auch im Schleswig-Holsteinischen Landesverband, früher bekannt für seine linke, den „Sachzwang-Sozis“ wenig genehme Politik, regt sich Widerstand. Seit zwei Tagen existiert der „Lübecker Kreis“, der „unzufrieden mit der Rechtsentwicklung“ in der Partei ist. Er will sie wieder zu einer Wahlmöglichkeit „für kleinen Leute“ umstrukturieren, statt sie als „Kanzlerwahlverein“ verkommen zu lassen. Doch von diesen Linken hat Engholm nichts zu befürchten. „Ein Jahr vor der Bundestagswahl das Pferd zu wechseln, wäre doch idiotisch“, sagt Konrad Nabel, einer der Initiatoren, pragmatisch.

Die Parteibasis will auf Engholm erst recht nichts kommen lassen. Als sich der Ortsverein Rendsburg am Dienstag trifft – zum ersten Mal seit Jansens Outing – hält man sich strikt an die Tagesordnung und diskutiert eineinhalb Stunden über „Blauhelme“. Erst dann interessiert sich auch das Parteivolk für das, was die Genossen im Landeshaus so furchtbar nervös macht. Selbst ihrem eigenen Landtagsabgeordneten, der sie auf unbedingte Solidarität mit der SPD- Landesspitze einschwört, belästigen sie nicht mit unangenehmen Fragen. „Das wären ja auch schon Vorverurteilungen“, heißt es mehrheitlich.

Für das Grüppchen anwesender Jusos sagt Kai: „Die Menschen, die in Jugoslawien sterben, interessieren mich mehr als der Mist eines Genossen.“ Nur einer in der Versammlung, Genosse Florian, verliert die Fassung und zweifelt an Jansen: „Ich fühle mich in meiner geistigen Kapazität unterschätzt. Ich glaube das Ganze nicht.“ Jansen würde im ganzen Land heiß und innig geliebt, „doch selbst wenn Engholm ihn aus allen Ämtern entlassen hätte“, spekuliert Florian, „wäre es nur ansatzweise zur Palastrevolution gekommen. Engholm hätte sich letztlich durchgesetzt.“ Auch der Ortsvereinsvorsitzende Henkel betont: „Jansen ist der beliebteste Mann im Land – nach Engholm.“ Ist wenigstens das südlich der Elbe vermittelbar?