Alte Sünden sind „geheilt“

Das juristische Tauziehen um das AKW Mülheim-Kärlich währt seit zwanzig Jahren/ Bundesverwaltungsgericht eröffnet nächste Runde  ■ Von Gerd Rosenkranz

Berlin (taz) – Die Legendenbildung setzte ein, als der hohe Richterspruch kaum verhallt, der 1.300-Megawatt-Reaktor am Rhein noch nicht einmal erkaltet war. Das Bundesverwaltungsgericht, beteuern die Rheinisch- Westfälischen Elekritizitätswerke (RWE) seit jenem denkwürdigen 9. September 1988 unaufhörlich, habe das Atomkraftwerk Mülheim-Kärlich nur wegen eines in der Urzeit der Genehmigungsprozedur „unterlaufenen Formfehlers“ ausgeknipst. Sicherheitsdefizite hätten die Richter nicht moniert. Bis heute plappern Politiker in Bonn und Mainz diese Betreiber-Interpretation nach. Über den Sicherheitsstandard der in die Jahre gekommenen Anlage spricht außer den Gegnern des Projekts niemand.

Das höchste deutsche Verwaltungsgericht unter seinem damaligen Präsidenten Horst Sendler hatte die 1. Teilerrichtungsgenehmigung (TEG) aus dem Jahre 1975 vor viereinhalb Jahren für „insgesamt rechtswidrig“ erklärt und mit diesem Beschluß AKW-Geschichte geschrieben. Nach nur 13monatigem Betrieb mußte das Kraftwerk abgeschaltet werden. Ausschlaggebend für das sensationelle Urteil waren jedoch nicht „unterlaufene Formfehler“, sondern ein hanebüchener Winkelzug, den das Mainzer Wirtschaftsministerium als Genehmigungsbehörde im ausdrücklichen Einvernehmen mit der RWE Mitte der 70er Jahre ausgeheckt hatte.

Der damalige Wirtschaftsminister Heinrich Holtenbrink erteilte im Januar 1975 die Genehmigung für den Bau einer Atomanlage, die so niemand mehr bauen wollte. Schon ein Jahr zuvor war nämlich allen Beteiligten klargeworden, daß der vorgesehene Standort des Meilers auf einer Tonschicht im Rheintal für den Bau gänzlich ungeeignet war. Nur öffentlich zugeben wollten es weder Bauherr noch Behörden. Kaum zwei Wochen nach der ersten Genehmigung stellten die RWE den „Freigabeantrag“ für ein um 70 Meter verschobenes und nicht mehr in sogenannter Kompaktbauweise zu errichtendes Kraftwerk. Die Landesregierung – der Ministerpräsident in Mainz hieß damals Helmut Kohl – stimmte dem neuen Konzept zu. Mit dem Trick ersparten sich Betreiber und Genehmigungsbehörde eine Wiederholung der öffentlichen Anhörung und weitere Klagen.

„Das Konzept“, erkannte Gerichtspräsident Sendler während der Verhandlung 1988, sei 13 Jahre zuvor „in sicherheitsrelevanter Weise geändert worden“. Sicherheitsfragen hätten folglich „mindestens neu geprüft werden müssen“. Da dies nicht geschehen sei, habe sich die Behörde eines „Prüfungs- und Bewertungsdefizits“ schuldig gemacht, die erste der acht TEGs könne deshalb keinen Bestand haben.

Seither blieb der Reaktor kalt, nur der Betreiber in Essen kochte. Versuche, die Sünden der Vergangenheit nachträglich zu „heilen“, wie die Juristen sagen, blieben nicht aus. In zwei neuen Anhörungsterminen bereitete die amtierende CDU/FDP-Koalition eine neue 1. Teilgenehmigung vor, die schließlich 1990 erteilt wurde. Ein Jahr später stoppte das OVG Koblenz auf Antrag der Gemeinden Neuwied und Mayen auch diesen Anlauf, die Sieben-Milliarden- Ruine wieder anzuheizen. Die nachgeschobene Genehmigung fülle die „durch die Aufhebung der ersten Teilgenehmigung (alt) von 1975 entstandene Regelungslücke nicht in dem rechtlich gebotenen Umfang“ aus, argumentierte das Gericht – und hielt dies schon für das letzte Wort. Eine Revision gegen den Spruch wollten die Koblenzer Richter nicht zulassen. Die erstritten die RWE jedoch im vergangenen Jahr beim Bundesverwaltungsgericht in Berlin.

Beim Revisionstermin Ende Januar wurde rasch klar, daß der 7. Senat unter dem inzwischen amtierenden Gerichtspräsidenten Everhardt Franßen bereit war, der Klage der RWE stattzugeben. Gestern wurden die Befürchtungen Realität. Franßen, seit Anfang der 70er Jahre SPD-Mitglied, erklärte die „Regelungslücke“ – im Gegensatz zur Auffassung des OVG – mit der Erteilung einer neuen 1. TEG für prinzipiell geschlossen. Allerdings müsse das Koblenzer Gericht sich nun mit dem Inhalt der neuen TEG auseinandersetzen, insbesondere mit der Frage der Erdbebensicherheit am Atomstandort im Neuwieder Becken.

Eine zwiespältige Rolle spielte in dem Berliner Verfahren die neue sozialliberale Koalitionsregierung in Mainz. Sie hat von ihren konservativen Vorgängern 1991 nicht nur den Atomreaktor, sondern auch den Genehmigungstorso geerbt. Während Ministerpräsident Rudolf Scharping (SPD) und Umweltministerin Klaudia Martini (SPD) die Wiederinbetriebnahme des Meilers öffentlich stets ablehnten, verzichtete das Land „als Beklagte“ vor Gericht auf eine aktive Rolle. Als Vertreter des Landes verteidigte Rechtsanwalt Siegfried de Witt halbherzig das nun aufgehobene Urteil des OVG Koblenz.

Ein möglicher Grund: Über der Landesregierung schwebt das Damoklesschwert einer Schadensersatzklage der Betreiber in dreistelliger Millionenhöhe. Der RWE- Konzern macht das Land heute für jene fehlerhafte Altgenehmigung (und die daraus folgende Stillegung seit 1988) allein verantwortlich, die in den 70er Jahren in trauter Einigkeit mit der Landesregierung Kohl ausgekungelt worden war. In erster Instanz erkannte das Mainzer Landgericht die RWE- Forderung 1992 teilweise an.

Das windungsreiche juristische Hickhack um den Mülheim-Kärlich-Meiler hat die realen Sicherheitsdefizite inzwischen fast vollständig aus dem Blickfeld gedrängt. Beim aktuellen Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht spielten sie keine Rolle mehr. Der 1.300-Megawatt-Druckwasserreaktor wurde Ende der sechziger Jahre konzipiert. Nach dem aktuellen „Stand von Wissenschaft und Technik“, darüber sind sich alle Fachleute einig, wäre das Atomkraftwerk heute nicht mehr genehmigungsfähig. Vor allem jedoch wurde der Bau just auf der mittelrheinischen Erdbebenspalte errichtet, deren heftige Aktivität im vergangenen Jahr Millionen Menschen aus dem Schlaf riß. Das schwere Beben erreichte in seinem Epizentrum bei Roermond den Wert 6,3 bis 6,5 auf der Richterskala.

Das AKW Mülheim-Kärlich, so steht es in alten Gutachten, ist für Beben bis zur Stärke 5,4 genehmigt. Über Erschütterungen in der Essener RWE-Zentrale ist nichts bekannt. Seit gestern ist man dort „zuversichtlich“, daß der Reaktor in einem halben Jahr wieder Strom liefert.