Deutschlands Autobauer haben den Strukturwandel in der Branche verschlafen. Absatzeinbrüche, zu hohe Produktionskosten und eine verfehlte Modellpolitik hinterließen 1992 bei den Autoschmieden empfindliche Betriebsverluste. Auch der erfolgsverwöhnte VW-Konzern steuerte gezielt in die Krise. Von Erwin Single

Mit Vollgas in die Sackgasse

Gestern Sonderschichten, heute Kurzarbeit, morgen Massenentlassungen – Deutschlands stolzeste und alles dominierende Branche, die Automobilindustrie, rast in die Krise. Nach fetten Jahren mit Rekordwerten bei Produktion und Absatz müssen die erfolgsverwöhnten Autobauer nun deutlich abspecken. In den Konzernetagen, wo angesichts des nicht enden wollenden Autobooms das satte Nichtstun gepflegt wurde, regiert jetzt das Chaosmanagement: Über 30.000 Stellen weltweit werden bei Volkswagen gestrichen, 20.000 sind es bei Mercedes, 6.000 bei Opel. Doch nach Ansicht von Branchenexperten wird es dabei nicht bleiben. In der deutschen Autoindustrie wackeln 200.000 Arbeitsplätze.

„Made in Germany“ allein reicht nicht mehr aus, und die Freiheit, die die Blechkisten versprechen, endet immer öfter an der nächsten Stoßstange. Doch unbeirrt von Verkehrschaos, Straßenkampf, verpesteter Umwelt, Schrotthalden und Überkapazitäten halten die Autobauer Kurs. Im Geschwindigkeitsrausch der großen Zahlen haben Deutschlands Autokonzerne nicht nur den Anschluß an die internationale Konkurrenz verloren, sondern auch den Trend der Zeit verschlafen. Absatzeinbrüche, zu hohe Produktionskosten, aufgeblähte Verwaltungsapparate und eine verfehlte Modellpolitik hinterließen im letzten Jahr bei den Autofirmen empfindliche Betriebsverluste. Und die Autoindustrie entpuppt sich zusehends als völlig erstarrte Altindustie, die trotz High-Tech unter der Motorhaube außer dem Katalysator nicht die geringste Alternative gegen die von ihr maßgeblich verursachte Umweltzerstörung anbieten kann.

Am schlimmsten hat es Europas größten Autobauer, den Wolfsburger Volkswagen-Konzern (VW, Audi, Skoda, Seat) erwischt. Für das erste Quartal 1993, berichtete der Spiegel, erwartet der VW- Vorstand einen operativen Verlust von einer Milliarde Mark – soviel wie im gesamten letzten Geschäftsjahr zusammen. Die Horrormeldung wurde zwar prompt dementiert, doch Volkswagen- Chef Ferdinand Piäch malte auf der jüngsten Betriebsversammlung ein düsteres Bild. Was der „schärfste Abschwung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs“ für seine Firma bedeutet, daraus machte Piäch kein Geheimnis: eine deutliche Verminderung der Investitionen und der Belegschaft sei „unumgänglich“.

Volkswagen ist das beste Beispiel dafür, wie sehr die durch den Erfolg eingelullten Manager die Autoschmieden in die Sackgasse steuerten. „Wir sind nicht in der Krise“, gab Konzern-Vize und VW-Markenchef Daniel Goeudevert noch vor einem halben Jahr bekannt, als das Wolfsburger Unternehmen in den Medien bereits als Sanierungsfall gehandelt wurde. Doch schon 1991, als Volkswagen mehr Autos als je zuvor verkaufte, entpuppte sich das bilanzierte Zahlenwerk als finanzielles Desaster: Das Autogeschäft schrieb Verluste in Höhe von 720 Millionen Mark. Die Produktionskosten galoppierten davon, verglichen mit den Herstellungskosten der japanischen Konkurrenz, stellte die Unternehmensberatung McKinsey fest, produziert VW um 40 Prozent teurer und wird nur noch vom Nobelkarossenhersteller Mercedes übertroffen.

Die Wolfsburger Vorstände hatten auf Masse statt Kasse gesetzt – eine angesichts der internationalen Krise am Automobilmarkt katastrophale Unternehmensphilosophie. Doch wo immer der zum Jahresende ausgeschiedene VW-Chef Carl Hahn auch hinblickte, entdeckte er neue Märkte, höhere Stückzahlen und wachsende Marktanteile. So wurde der böhmische Pkw-Hersteller Skoda aufgekauft, bei Barcelona ein neues Seat-Werk errichtet, im portugiesischen Sebutal, in Shanghai, der Mandschurei, Mexiko und zu guter Letzt in Mosel bei Chemnitz Milliarden investiert, um ein Ziel zu erreichen: Bis 1996 sollten 3,3 Millionen Autos gebaut werden – ein völlig utopischer Ansatz. Selbst der VW-Betriebsrat war schlauer als die Chefs und warnte davor, die gestiegenen Ertragsrisiken wieder nur durch neue Produktionsrekorde zu kompensieren. Und er behielt Recht. Um überhaupt Gewinne zu schreiben, müssen bei VW 90 Prozent der Kapazitäten ausgelastet sein. Selbst ein Viertkläßler kann sich daraus ausrechnen, daß schon ein wenig Kurzarbeit den Autobauern blutrote Zahlen beschert.

In gewisser Weise gibt es verblüffende Parallelen zur deutschen Stahlkrise. Die gute Autokonjunktur hat die Strukturprobleme der Branche nur zugedeckt. Autos gibt es wie Stahl mehr als genug, die Halden der Vertriebsorganisationen und Gebrauchtwagenhändler sind voll davon. Zwei Jahre hatten die europäischen und vor allem die hiesigen Autobauer von der deutsch-deutschen Sonderkonjunktur profitiert. Inzwischen ist der Nachholbedarf der ostdeutschen Autokäufer längst gedeckt. Nun wirft die internationale Autokrise wieder ihre langen Schlagschatten. Im letzten Jahr hat die Branche in Deutschland noch 165,5 Milliarden Mark umgesetzt – jetzt wird überall der Rotstift angesetzt. 5,2 Millionen Blechkisten wurden 1992 produziert, in diesem Jahr sollen es schon zehn Prozent weniger sein. Die Inlandszulassungen gingen 1992 bereits um 15 bis 20 Prozent zurück, Anfang des Jahres wurde sogar mit 30 Prozent Rückgang gerechnet.

Das Beispiel der US-amerikanischen Autohersteller hat gezeigt, wohin die Fahrt geht: steil nach unten. Die drei US-Giganten General Motors, Ford und Chrysler fuhren bereits 1991 die größten Verluste ihrer Firmengeschichte ein. Die Autoproduktion in Nordamerika hatte sich um rund 500.000 auf 6,9 Millionen Fahrzeuge verringert. Zudem mußten die US-Konzerne den kostengünstigeren japanischen Herstellern weitere Marktanteile abtreten.

Doch die Krise bremst selbst die Japaner in ihrem weltweiten Siegeslauf. Auch sie mußten 1991 erstmals einen Rückgang ihrer Automobilproduktion um drei Prozent auf 9,6 Millionen hinnehmen. Und für Europa hat der Nürtinger Professor Willi Diez einen gnadenlosen Verdrängungswettbewerb vorausgesagt. Entgegen der sinkenden Nachfrage befinde sich die europäische Autoindustrie mitten in einer Phase des massiven Kapazitätsausbaus. Ohne Revision der Pläne, so der Wirtschaftsexperte, werde sich der heutige Kapazitätsüberhang von mehr als einer halben Million Fahrzeuge innerhalb kürzester Zeit verdreifachen.